Essen. Auf mehr als 1000 Seiten breitet Clemens Meyer die Geschichte von Karl May in „Die Projektoren“ aus. Für unseren Kritiker „ein großer Wurf“.

Schon im Namen Clemens Meyer könnte man den Radebeuler Wildwestträumer Karl May (1842–1912) vermuten. Und überhaupt gehören ja Cowboy- und Indianerspiele in jede Kindheit, egal ob in Ost oder West. Kriegsspiele leider auch. Dass sich dann aber einer des sächsischen Winnetou- und Old Shatterhand-Erfinders in so übervoller Weise annimmt und bei der Gelegenheit auch noch Wesentliches vom ganzen Rest des 20. Jahrhunderts mitverhandelt, muss dann doch als die deutschsprachige Sensation des beginnenden Bücherherbstes gefeiert werden. Meyers Werk „Die Projektoren“ erscheint am 28. August.

Wie beim Vorbildkollegen geht es aus Sachsen nach Amerika, und zwar ins richtige, aber auch in den ebenso genannten Stadtteil von Penig. Es geht nach Merseburg, Zwickau und immer wieder nach Leipzig, aber auch nach Essen und Dortmund. Doch die meiste Zeit sind wir im ehemaligen Jugoslawien, weil dort in den sechziger Jahren die berühmten Western-Westverfilmungen mit Pierre Brice und Lex Barker gedreht wurden, die erst mit erheblichem Zeitversatz auch im Osten des Landes gesehen werden konnten. Man hatte zunächst mit eigenen Filmen gekontert, verfasst von der „Genossin Schriftsteller“ Liselotte Welskopf-Henrich. Die war, anders als Karl May, tatsächlich in Amerika. Auch diese Filme entstanden teilweise in Jugoslawien, und die Hauptrolle übernahm mit Gojko Mitić ein Sportlehrer von dort, der dann in die DDR übersiedelte.

Reale Kriege und Filmkämpfe driften ineinander

Nachdem die Mauer gefallen und auch der durchaus andere Sozialismus Jugoslawiens zusammengebrochen war, erreichte der Krieg der Leinwand die Realität des Landes. Mit Waffengewalt wurden Separationsbewegungen ausgekämpft und die Cowboy-Indianer-Spirale auch mit Unterstützung diverser Söldner weitergedreht. Clemens Meyer bringt sie alle und noch viel mehr ins Bild. „Die Kriege nehmen kein Ende“, lässt er einen sagen und erzählt in einer Weise davon, dass es wehtut.

In den Filmlandschaften sitzen sie beieinander und erzählen, bevor sie gegeneinander antreten. Oder miteinander. Es ist nur einer der vielen Tricks, die Clemens Meyer virtuos ausspielt, wie er die realen Kriege und die Filmkämpfe ineinanderdriften läßt. „Es ist ein ziemlich dickes Buch, ein Oschi, wie wir Sachsen sagen“, lässt er an einer Stelle kokettieren, um anderswo einen anderen erklären zu lassen: „Der Roman, wie ihn die Moderne versteht, ist ein Monolith, ein Chaos aus Stimmen.“

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Clemens Meyer hat diesem Chaos eine moderne, oft filmische Form gegeben. Er hat es so gebändigt, dass man die siebzehn Kapitel auf mehr als tausend Seiten als sein Opus magnum verschlingt wie ein willkommenes Überrumpelungsprogramm. Das hat elementare Kraft, ist genauestens recherchiert und quillt über vor enzyklopädischem Wissen. Das setzt gekonnt inhaltliche Klammern, Querverweise und Motivverzahnungen. Mal kann sich das aufschwingen in Sprachmelodien wie eine Todesfuge in Prosa, dann wieder gibt es präzisen Humor und Ironie oder macht betroffen, indem biografische Fehlentwicklungen distanzlos beschrieben werden. Dieses Buch belehrt nicht, es führt vor mit seinen kraft-meyer-ischen Montagen und Radikalisierungen.

Meyer führt mit großer Sprachgewalt durch sein überbordendes Lesefutter

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Den Ausgangspunkt bildet die Irren-Hilfs-Heil- und Pflegeanstalt des Dr. Güntz in Leipzig-Stötteritz, wo mit geovisueller Hypnosetherapie gearbeitet wurde, mit Blick auf die Patienten nach dem Heilungskonzept „Laufenlassen und Beobachten“. Also hat einer als Indianer im Park sein Tipi aufgeschlagen, trägt langes Haar und nichts als ein Anstaltshandtuch als Lendenschurz. Ein anderer – der Fragmentarist – hat alle Wände mit Notizen beschriftet, was Stoff für eine wissenschaftliche Tagung gibt. Auch Dr. May soll mehrfach hier gewesen sein zwischen 1870 und 1880, dann noch einmal 1891, nachdem er wegen des Massakers in Wounded Knee einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Man munkelt, seine Weltkarriere sei durch die revolutionären Heilmethoden begünstigt worden. Und die titelgebenden Projektoren gab es hier, weil Western im hauseigenen Kino zurück zu Cowboy- und Indianer-Spielen führen sollten.

Voller Exkurse, Episoden und Schnitte führt Clemens Meyer mit großer Sprachgewalt durch sein überbordendes Lesefutter voller wunderschöner und kraftvoller Details. Ein Indianer lacht sich tot, Pierre Brice ist mit Spendengeld in DDR-Mark nach Amerika unterwegs, einer spielt stoisch Schach, ein anderer näht Fantasieuniformen und Malermeister Rüdiger Klotzsche aus Zschaschelwitz entdeckt den Islam. Eine Bibliothek brennt, und die Imbissbude eines Chinesen, die in Sachsen aus Vietnam kommen. Es ist viel los, sehr viel, und irgendwie haben die meisten ein Faible fürs Kino, selbst dann noch, als die Italiener das Westerngeschäft dominieren. Dies ist nicht einfach nur noch ein Roman, es ist ein großer Wurf.

Unter den zwanzig für den Deutschen Buchpreis Nominierten ist er schon. Und vielleicht entschließt man sich ja in der Jury für den Georg-Büchner-Preis endlich mal wieder für Literatur, die mit Relevanz und Dringlichkeit und nicht am Leser vorbei unsere Gegenwart durchleuchtet …

Clemens Meyer: Die Projektoren. Roman. S. Fischer Verlag. 1050 Seiten. 36,00 €