Essen. Was geschieht, wenn dunkle Mächte freigelegt werden? Mit seinem neuen Buch setzt der Norweger seinen Zyklus „Der Morgenstern“ fort.

Schon in seinem Debütroman „Aus der Welt“ von 1998 hatte der Norweger Karl Ove Knausgård sein Credo formuliert: „Jemand sein, der mit klinischer Distanz analysiert, was sich abgespielt hat, jemand, der versteht.“ Das wurde zu einer in dieser Konsequenz so noch nicht durchgespielten Formel für seinen Welterfolg.

Einer erzählte mit dem längsten denkbaren Atem in allen Details von sich, und irgendwie fanden sich alle wieder. „Genauigkeit ist essenziell, wenn man über etwas so Ungenaues wie seine Empfindung spricht.“ Sechs Bände berichteten vom Kampf eines Autors und seinen Ich-Durchleuchtungen als Träumen, Leben, Spielen, Lieben, Sterben und Kämpfen. Dann mäanderte Knausgård in seinen nächsten Büchern durch die Jahreszeiten und sagte Essenzielles zu Edvard Munch und Anselm Kiefer.

In seinem wieder groß angelegten Romanzyklus „Der Morgenstern“ installiert Knausgård wechselnde Ich-Erzähler in einem fein verzahnten Kosmos, die im norwegischen Sommer zwischen den Banalitäten des Alltags, Transzendentem und Mythologischem hin und her gerissen sind. Auf den ersten Band im Jahr 2020 folgte im Jahr darauf „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ mit zum Teil wiederkehrender Personage, zwei Romanziegelsteine von rund tausend Seiten.

„Das dritte Königreich“ spielen an drei Sommertagen

„Das dritte Königreich“ nun setzt das Prinzip der sich abwechselnden und gelegentlich miteinander zu tun habenden Figuren in leicht geringerem Umfang fort. Wieder liest man gebannt und staunt, welche Faszination auch von den kleinsten Dingen des Alltags ausgehen kann, wenn sie dieser Autor verdichtet und etwas Größerem zuordnet.

Drei Sommertage bilden den zeitlichen Rahmen, in dem sich die Ereignisse verschränken. Die Malerin Tove und ihren Mann, den Literaturprofessor Arne, kennt man bereits seit dem ersten Band. Mit ihnen beginnt der Reigen. Sie sind mit ihren drei Kindern im Urlaub, und es erweist sich als unmöglich, innerhalb der Familie so etwas wie Gemeinsamkeit zu etablieren. Die unter Depressionen Leidende kann auch in den Ferien ihre Malerei nicht ruhen lassen, arbeitet nachts und ist folglich tagsüber erschöpft.

Karl Ove Knausgård ist ein Meister des Sinnbildhaften

Mit Märchenzeichnungen strebt sie danach, unter die Oberfläche unserer Kultur zu gelangen in Akten der Enthüllung. Derweil trinkt sich ihr Mann durch den Tag und schreibt seit vielen Jahren an einem Roman, den er niemandem zeigt. Weil Knausgård auch ein Meister des Sinnbildhaften ist, lässt er die Familie beim gemeinsamen Angeln im Fjord weit auseinanderrücken, damit sich ihre Schnüre nicht verheddern.

Misstrauen, sich aus Lebenskrisen herleitende Sinnsuchen, Gefährdungen, Gewalt, Sexualität, Geheimnisse, Irrationales, Abgründe, Albträume und Therapien durchziehen die Kapitel in immer neuen Spielarten und weit ausholenden Handlungsverzahnungen. Über allem strahlt der plötzlich erschienene neue Stern, der Anlass gibt für vielfältige Spekulationen.

„Das dritte Königreich“: eine Pastorin an den Grenzen ihres Glaubens

Seit dem Auftauchen des mystischen Lichtphänomens haben sich die Dinge ins Unheimliche gewandelt. Nachts verändert das rätselhafte Licht wie eine Majestät die Träume, und überhaupt geschieht Unfassbares. Ein in dieser Größe nie dagewesenes Busunglück und ein an Brutalität nicht zu steigernder Ritualmord an drei Mitgliedern einer Heavy-Metal-Band kündigten das Erscheinen des Sterns an. Seit er vor sieben Tagen aufgetaucht ist, starb niemand mehr in Norwegen.

Deswegen konstatiert Dr. Jarle Skinlo angesichts eines Toten Hirnaktivitäten. Die Pastorin Kathrine gelangt an die Grenzen ihres Glaubens, der Stararchitekt Helge an die seiner Kreativität, der Lehrer Gaute an die seiner Kompetenzen und der Beerdigungsunternehmer Syvert an die seines Geschäfts. Der Polizist Geir glaubt den Teufel selbst am Werk. Die neunzehnjährige Line erlebt eine erste Liebe, die alle Grenzen sprengt, weil Valdemar etwas vom Charakter des titelgebenden dritten Königreichs ahnt, das dem des Vaters und dem des Sohnes folgt.

„Das dritte Königreich“ ist Krimi, Psychothriller, Splatter und Familiengeschichte

Und jede dieser mit Elementen aus Krimi, Psychothriller, Splatter, Ehe- und Familiengeschichte, Mysterienspiel, philosophischem und wissenschaftlichem Essay, Fantasy, Mythologie, Sozialrealismus, Sage und Märchen durchzogene Geschichten ist auf andere Weise spannend zu lesen. Gott und KI sind umfassender als das menschliche Bewusstsein, weiß Jarle Skinlo und zitiert einen Gedanken des Informatikers Alan Turing, demzufolge das, was erklären soll, umfassender ist als das, was erklärt werden soll … auch eine Formel für die Knausgårdsche Erzählkunst.

„Das dritte Königreich“
„Das dritte Königreich“ © Penguin Random House Verlagsgruppe | HANDOUT