Bochum. Kein normales Konzert: 25.000 Fans feiern den Sänger am Mittwochabend drei Stunden lang in seiner Heimatstadt. Drei Konzerte folgen.
Die ersten 50 Minuten ist es ein ganz normales Grönemeyer-Konzert. Herbert kommt zum Instrumental-Sound von „Mein Lebensstrahlen“ wie immer auf die Bühne gestürmt, diesmal in schwarzem Gehrock und lila Bollerhose. Der Sound ist auf den Rängen voller Echos und matschig wie so oft in einem Stadion, das für Konzerte gar nicht gebaut ist, im Innenraum ist er klarer, manchen finden ihn gar „super“. Aber das hier ist ja auch gar kein Konzert, es ist eine Herbert-in-Bochum-Abendmesse. Und wer weiß, wenn die Stadt den Stadionanwohnern zuliebe nicht verfügt hätte, dass nach drei Stunden um 23 Uhr Abpfiff sein muss, hätte Grönemeyer vielleicht noch bis Mitternacht weitergespielt, so sehr genoss er Applaus und Heimspiel-Gefühl.
„Das ist los“ macht ganz schön was los, die untergehende Abendsonne senkt einen milden Gelbschimmer über die Bühne in der Ostkurve. Dieses Licht ist wie die Nostalgie, die diesen Abend für viele in Gefühle taucht zwischen Wehmut und Lachen. Wen später am Abend das Lichtermeer und die vereinigten Grönemeyer-Chöre zu „Flugzeuge im Bauch“ nicht berühren, der hört den Song vielleicht zum ersten Mal. Was den bestens gelaunten Bundes-Herbert nicht davon abhält, mit der Stimme herumzukaspern und ein Stück Text zu vergessen.
„Ich bin so glücklich, im Wohnzimmer der Unabsteigbaren zu spielen, ich fühl mich wie 22 und sehe ja auch fast so aus“, albert Grönemeyer herum, wohl wissend, dass auch das mit den „Unabsteigbaren“ manchmal nur haarscharf oder gar nicht zutrifft. Aber er rennt tatsächlich unermüdlich die 50-Meter-Bühne auf und ab und dann wieder auf den Laufsteg und zurück, besonders zu „Was soll das?“ Das geht über in seinen einzigen Hardrock-Song „Vollmond“, zu dem Gitarrero Stephan Zobeley ein amtliches Solo vom alten Schlag hinlegt.
Herbert Grönemeyer spielt „Halt mich“ auf weißem Klavier und hat sich am Ende 27mal versungen
Mitten im Innenraum gibt’s dann „Halt mich“ als Solo auf einem weißen Klavier, und als er einmal vom Songtext abweichend singt „Es ist so schön, dass es euch gibt“, ist der Jubel groß. Seltsam, wie intim solche Liebesballaden in einem vollen Stadion wirken können. Bei „Mensch“ schwingt Grönemeyer sich gegen ein dissonantes Piano gar zu Tenor-Höhen auf, er habe im Kirchenchor und am Hildegardis-Gymnasium für Mädchen gesungen. Na ja, stellenweise ist es heute Abend eine öffentliche Probe, er habe sich 27-mal versungen, räumt er im Zugabenteil ein. Vielleicht hilft die Übung ja bei den drei weiteren Konzerten im Stadion.
„Ich lebe vom Applaus“, spricht Grönemeyer eine weitere Wahrheit aus, die so offensichtlich ist wie seine Begabung zum eigenwilligen Tanzen. Selbstverständlich gibt es Applaus dafür, auch ein Publikum kann Ironie. Dann, nach 50 Minuten, legt Grönemeyer den Gehrock ab, Industriekulissen auf den Bildwänden, es wird ernst: Das 39-Minuten-Album „4630 Bochum“, das vor 40 Jahren den Grundstein für eine Karriere bis heute legte, kommt Song für Song, wenn auch in variierter Reihenfolge.
1984 sang Herbert Grönemeyer auf „4630 Bochum“ vielen aus dem Herzen
1984 steigt in der UdSSR der greise Apparatschik Konstantin Tschernenko zum Staatsoberhaupt auf, in der Bundesrepublik treten Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff und Bundestagspräsident Rainer Barzel wegen ihrer Verwicklung in die Flick-Parteispenden-Affäre zurück. US-Präsident Ronald Reagan sagt in ein Fernsehmikrofon, er habe soeben die Sowjetunion zur Bombardierung freigegeben, aber das ist natürlich nur ein Scherz. Prompt wird er im November wiedergewählt. Die Kohl-Regierung führt in Deutschland das Privatfernsehen ein, der Waldzustandsbericht stellt fest, dass die Hälfte der deutschen Wälder sichtbar geschädigt sind. Im indischen Bhopal sterben Tausende nach der Havarie in einer Pestizid-Fabrik. Und der Chaos Computer Club dringt ins BTX-System der Bundespost ein, um sich 135.000 DM auf sein eigenes Konto zu überweisen. Und vielen sang und spielte damals ein „unvorstellbarer Rocker“ aus dem Herzen, der „Deutschland im Sturm einnimmt“, wie selbst das US-amerikanische Time Magazine überrascht feststellte.
„Bochum“, die Hymne: Grönemeyer ist „dankbar für alles, was ich hier gelernt habe“ und hebt die Selbstironie hervor. Die Anekdote von seiner A-Jugend, die 22:0 gegen die vom VfL verloren hat, erzählt aber auch vom Wiederaufstehenkönnen, vom Nichtaufgeben und von diesem realistischen Selbstvertrauen, das Grönemeyer der Stadt, dem Ruhrgebiet mit diesem einen Song geschenkt hat. Und die Selbstironie flackert dann wieder auf, als er bei „Flugzeuge im Bauch“ in der Kontrabass-Version zu parodistischen Mätzchen ansetzt, die dem Song nicht guttun. Zu „Männer“ passt die kalauernde Parodie seines eigenen Gesangstils dann allerdings wieder herrlich.
„Danke Zuhause“, ruft Herbert Grönemeyer, der vielleicht nirgends so zu Hause ist wie in der Sprache des Ruhrgebiets
Vor den Zugaben stimmen die Fans auf den Rängen nach minutenlangem Applaus das übliche „Oh, wie ist das schön“ an. Und dann kommt noch einmal Jeremias auf die Bühne, die Band, die so berückend relaxed gezeigt hat, wie anders „Mambo“ klingen kann.
Zum Schluss, nach der „Currywurst“ („auf Wunsch eines einsamen Vegetariers“), stimmt Grönemeyer als Trost und Selbstversicherung gegen die Ergebnisse der Europawahl noch „Angstfrei“ an. Zu „Land unter“ um Viertel vor elf ist es endlich richtig dunkel und die Bühne wirkt magisch. Sie spielen in kleiner Besetzung vorn auf dem Laufsteg mitten im Publikum. Und „Bochum“ gibt es gar ein zweites Mal, angeblich hat eine Zeitung beim letzten Mal geschrieben, es sei kein gutes Konzert gewesen, weil er „Bochum“ nur einmal gespielt hat.
Setlist zum 40-Jahre-„Bochum“-Konzert
Mein Lebensstrahlen (instrumental)
Das ist los
Sekundenglück
Kopf hoch, tanzen
Halt mich
Glück
Was soll das
Vollmond
Doppelherz
Musik nur wenn sie laut ist
Mensch
Komm zur Ruhr (instrumental)
Bochum
Für dich da
Amerika
Alkohol
Erwischt
Jetzt oder nie
Flugzeuge im Bauch
Fangfragen
Männer
Mambo
Zugaben:
Kinder an die Macht
Mein Lebensstrahlen
Zeit, dass sich was dreht
Der Weg
Herzhaft
Bleibt alles anders
Currywurst („auf Wunsch eines einsamen Vegetariers“)
Angstfrei
Land unter
Demo (Letzter Tag)
Bochumer Jungenlied
Bochum
Immerfort
Dass ihm das Herz aufgeht, wenn er die Sprache im Revier hört, die vielleicht sein eigentliches Zuhause ist, wird mit Jubel gefeiert. „Dankeschön Zuhause!“, sagt Grönemeyer irgendwann. Vielleicht weiß er ja, dass sich die Tausende im Stadion längst bei ihm bedankt haben. Indem sie gekommen sind. Und ihn feiern als einen der ihren.
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