Dortmund. Zwischen Klassik, Rap und Orchester-Pomp erleben die Gäste im Konzerthaus Dortmund einen entfesselten Piano-Virtuosen Chilly Gonzales.
Konzerte von Chilly Gonzales sind Vollkontakt-Veranstaltungen. Zunächst nur im übertragenen Sinne, wenn der kanadische Meister-Musiker als Pianist, Rapper, Lyriker und Entertainer seinem Publikum mit künstlerischer Kompromisslosigkeit nahe tritt. Am Ende dieser zwei grandiosen Stunden im ausverkauften Dortmunder Konzerthaus aber auch wortwörtlich: Gonzales ist von der Bühne gesprungen, die erste Reihe des nun hell erleuchteten Saales abgeschritten und hat das Publikum mit gewohnt frechem Charme seiner Liebe versichert („Als ich zwei Jahre nicht auftreten konnte, haben mir vor allem drei Sachen gefehlt: das Geld, die Frühstückbuffets – und ihr!“). Dann erklimmt er zum knallenden Rap „Surfing the Crowd“ die Sitzreihen, breitbeinig auf den Lehnen stehend feiert er sein Schicksal als geborener Publikumsdompteur, stützt sich auf Schultern und Halbglatzen, lässt seinen Schweiß in Polster, Sakkos und Abendkleider tropfen – wie der Wolf in der Schafherde verschlingt das Unterhaltungsgenie „Gonzo“ noch einmal die Distanziertheit des Hochkultur-Hauses.
Song und Ausflug ins Publikum kennt man, und doch atmet an diesem Abend die Show einen Hauch mehr Direktheit: Den lange obligatorischen Morgenmantel überspringt Gonzales, kommt energischen Schrittes direkt im ballonseidenen Trainingsanzug auf die Bühne – und lässt im angepassten Text des Openers „Bongo Monologue“ gleich noch durchblicken, dass es mittlerweile nicht nur Segen, sondern auch Fluch sei, auf die Dandy-Rolle als „Belmondo am Klavier“ abonniert zu sein.
Chilly Gonzales: Pianist, Rapper, Produzent, Songschreiber
Es muss eben immer was Neues her für den aus Montreal stammenden Musiker, der klassisch am Klavier ausgebildet wurde, nach ersten Pop-Gehversuchen in den 90er-Jahren in Berlin zum Underground-Rap-Phänomen avancierte, für so unterschiedliche Weltstars wie Drake, Daft Punk und Feist Hits schrieb und produzierte, und sich parallel mit fein ziselierten Piano-Miniaturen auf den Spuren von Keith Jarrett und Steve Reich, schrägem Humor und kunstvoll vogelwilden Genre-Kombinationen einen Namen machte.
„Viele Weltpremieren“ verspricht der Wahl-Kölner Gonzales zu Beginn auf Deutsch mit breitem Akzent, im September komme seine neue Platte. Dass die Songs „ofenfrisch“ seien, wie er nach clownesk peniblem Blättern in einem deutschen Wörterbuch behauptet, ist natürlich charmant geflunkert: Manche der neuen Stücke gab es auch vor ein, zwei Jahren schon live zu hören.
Keine Gnade für den Antisemiten Richard Wagner und Spotify-Apologeten
Was selbstredend egal ist, schließlich strahlt das neue Material hell: Aus dem Frust über verspätete ICE-Züge spinnt Gonzales einen deutschsprachigen Rap, der wie ein Fiebertraum Floskeln, Werbesprüche und Zug-Smalltalk in einen Abgesang auf Deutschland verwandelt, den man als Liebeserklärung verstehen darf. Zornig kann er aber auch: Zu „Fuck Wagner!“ hält er eine lange Vorrede, erklärt seine Liebe zur Musik des Komponisten und seinen Ekel vor dessen üblem Antisemitismus, plädiert dafür, den Künstler vom „scheußlichen Menschen“ zu trennen – aber doch bitte etwa die Richard-Wagner-Straße in Köln lieber nach der lange dort beheimateten Tina Turner zu benennen. Und dann rappt er zum Rhythmus des „wagnerischsten Instruments überhaupt: der Pauke“ so wütend und vernichtend über den Romantik-Komponisten, dass es wie der berüchtigte „Mic Drop“ der Rapper aussieht, als er am Ende die beiden Schlägel von sich wirft.
Ohnehin bekommt die Rap-Persona von Chilly Gonzales mehr Raum als zuletzt: Als er im dramatischen „Neo-Classical Massacre“ sprechsingend all jene Kollegen beschämt, die in seinem Windschatten ihr Talent daran verschwenden, Spotify-Playlists zu gefallen („Nichts wird von euch bleiben – niemand wird euch lieben oder hassen, ihr werdet egal sein“), inszeniert er das mit der gleichen egoman übersteigerten Arroganz, mit der auch der selbstproklamierte „Rap God“ Eminem die Konkurrenz auf die Plätze verwiesen hätte. Dazwischen gibt es aber auch immer wieder Ruhe-Inseln, in denen ein Spotlight den Flügel nur fahl ausleuchtet und Gonzales einige Hits seiner gefeierten „Solo Piano“-Trilogie spielt. Und dann hat man noch kein Wort über seine exzellente vierköpfige Band verloren, die an Bass, Schlagzeug, Mezzo-Violine und Saxofon Songs wie „Advantage Points“ mit erstaunlichem Orchester-Pomp ausstattet, andere Stücke zu stampfenden Dancefloor-Knallern oder kunstvoller Klassik-Pop-Avantgarde verwandelt und manchmal per Synthesizer sogar etwas Retrofuturismus einstreut.
Orgasmische Höhen, schelmischer Humor und Kunst wie bei John Cage im Konzerthaus Dortmund
Fixpunkt aber bleibt immer Maestro Gonzales selbst, der all die musikalische Brillanz, stilistische Bandbreite, launige Albernheit und überragende Spielfreude verkörpert, die diesen Abend so mitreißend macht. Der im einen Moment einen Sex-Song in orgasmische Höhen schraubt, um ihn dann mit beinahe John-Cage-artiger Kunstfertigkeit in eine A-capella-Stille abstürzen zu lassen, die das Tief nach dem Hoch reflektiert. Der dann plötzlich nach Songwünschen fragt, um mit schelmischem Grinsen mitzuteilen, diese seien „interessant“ und würden „in Erwägung“ gezogen, er fahre nun aber doch lieber mit dem geplanten Programm fort. Und der 30 Sekunden später schon wieder seinen Klavierhocker nach hinten schiebt und so kraftvoll auf den Boden stampft und auf die Tasten haut, dass das Konzerthaus erbebt. Selten klangen stehende Ovationen so berührt, klang Jubel so befreit.