Dortmund. Im ausverkauften Konzerthaus Dortmund verzweifelt der Kabarettist an „Über-Ich-Verfettung“, Klimakollaps und „Zombie-Kapitalismus“.

Manchmal spielt Hagen Rether mit dem Gedanken, „den Barschel in der Badewanne“ zu machen. Aber dann denkt er an den Liebesdienstt, den Holocaust-Überlebende der Gesellschaft erweisen: „Wer bin ich dann, zu resignieren?“
Manchmal spielt Hagen Rether mit dem Gedanken, „den Barschel in der Badewanne“ zu machen. Aber dann denkt er an den Liebesdienstt, den Holocaust-Überlebende der Gesellschaft erweisen: „Wer bin ich dann, zu resignieren?“ © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Hagen Rether klingt resigniert: „Manchmal liege ich vor einem Auftritt in meinem Hotelzimmer und denke: Phhh, Hagen, warum machst du das eigentlich noch? Und nimmst nicht fünf Whiskey aus der Minibar und ‘ne Pille und machst den Barschel in der Badewanne?“ Puh. Zum Glück geht es weiter: „Aber dann denke ich an die Holocaustüberlebenden, die seit Jahrzehnten in die Schulen gehen. Das ist ein solcher Liebesdienst, wenn die unsere Gesellschaft noch nicht aufgegeben haben – wer bin ich dann, zu resignieren? Und dann stehe ich auf, ziehe meinen Anzug an und gehe ins Konzerthaus Dortmund.“ Respekt!

„Zombie-Kapitalismus“, der drohende Klimakollaps und Ansprüche statt Verantwortung

Gründe zum Aufgebenwollen hat Rether da längst genug zusammengetragen: Mehr als drei Stunden hat er vor ausverkauftem Haus durchexerziert, wie sich selbst im Angesicht der überwältigenden Krisen zu viele Menschen noch immer wie trotzige Kinder „mit Über-Ich-Verfettung“ benehmen. Die in selbstgerechter Anspruchshaltung ihre Privilegien verteidigen und stets jenen nachlaufen, die versprechen, ihnen nichts zuzumuten – die Vorstellung vom „mündigen Bürger“, der Verantwortung für sich und kommende Generationen übernimmt, zersplittert in Rethers gnadenloser Vivisektion der Verhältnisse wie eine Murano-Glasvase am nackten Felsen Wirklichkeit.

„Und da wollte ich Sie jetzt mal fragen, ob sie da ‘ne Idee hätten“: Hagen Rether mit Klemmbrett und Notizzettel gegen die dräuenden Probleme der Welt.
„Und da wollte ich Sie jetzt mal fragen, ob sie da ‘ne Idee hätten“: Hagen Rether mit Klemmbrett und Notizzettel gegen die dräuenden Probleme der Welt. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Immer geht es dabei um alles. Sprichwörtlich wie wort-wörtlich: Wenn Rether im Plauderton des Sozialarbeiters, aber mit dem unbarmherzigen Scharfsinn eines Staatsanwalts über „Zombie-Kapitalismus“, die dringende Notwendigkeit von Feminismus und Antifaschismus, die neue Bildungskatastrophe, Religion, Kinderwunsch, Imperialismus und – immer wieder und zuvörderst – den drohenden Klimakollaps spricht, hat er das Großeganze im Blick, redet sich bruchlos von einem Thema ins nächste.

Das Programm „Liebe“: Hagen Rether weiter mit Bürostuhl am Steinway-Flügel

Früher hat Rether das alles mit großer Nonchalance und viel Understatement präsentiert, zurückgelehnt im Bürostuhl des Kabarett-Beamten, an seiner Seite den stets Theater-Kunst verströmenden Steinway-Flügel mit den Bananen. Heute brechen aus dem Wahl-Essener etwas öfter auch derber Klamauk und Fluchwörter heraus, sein Vortrag ist zorniger und verbindlicher zugleich. Wenn er etwa angesichts allgemeiner Idiotie mal wieder ein fassungsloses „Wo soll man da anfangen?“ hervorstößt – je lauter die Uhr des Planeten tickt, desto höher wird offenbar auch die Drehzahl des Überzeugungstäters Rether.

Das Publikum geht das gebannt mit. Selten wird befreit aufgelacht. Die Stimmung ist konzentriert, da ist leises Mit-Fiebern, Mit-Kopfschütteln, Mit-Verzweifeln, allerdings mit einem Lächeln auf den Lippen. „Liebe“ hat Rether sein Programm vor 20 Jahren getauft, seitdem spielt er es in immer neuer Aktualisierung konstant weiter (ähnlich wie der ähnlich gute, ähnlich konsequente Volker Pispers). Und nur, weil man eben diese Liebe zu den Menschen unter all dem Sarkasmus stets spürt, ist diese Kanonade, diese Dicke Bertha an Apokalyptischem überhaupt auszuhalten.

Nicht immer nonchalant, zurückgelehnt und im Plauderton: Hagen Rether spielt sein Dauer-Programm „LIebe“ auch aufrichtig zornig und fassungslos.
Nicht immer nonchalant, zurückgelehnt und im Plauderton: Hagen Rether spielt sein Dauer-Programm „LIebe“ auch aufrichtig zornig und fassungslos. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Hagen Rether: Keine CDs mehr, keine Fernseh-Auftritte, kein Social Media

„Ins Fernsehen gehen!“, ruft ein Zuschauer, als Rether nach einem Themenblock kaum aufzulösender Probleme mal wieder rhetorisch fragt, „ob Sie da ‘ne Idee hätten“. Der 54-Jährige räumt das souverän ab: Er sei 20 Jahre im Fernsehen gewesen, jetzt seien andere dran, die weniger alter weißer Mann sind – und überhaupt mache er ja gegen die Überpräsenz und für die Umwelt auch keine CDs mehr, und Social Media eh noch nie, schließlich sei doch spätestens seit Corona die Erkenntnis da, dass wir alle uns gesundschrumpfen müssten.

Am Ende haben alle ihr Fett weg: die „zynischen Arschgeigen Christian Lindner und Wolfgang Kubicki“, Friedrich Merz, der Dalai Lama, Merkel, Schröder und Kohl, schlechte Väter, die „Was bringt mir das?“-Egomanen mit fehlender Herzensbildung, der „Antisemit Wagner“, die unfreiwilligen Clowns in den Polit-Talkshows. Kurz vor Schluss kommt doch noch das Piano zum Einsatz: „Machen sie mal eine Liste mit all den Dingen, für die sie dankbar sind“, sagt Rether über die sanfte Improvisation hinweg, und dann schweigt er so lange wie nirgends sonst an diesem eindrucksvollen Abend. „Ins Theater geht man, um sich zu versichern, dass man nicht der Einzige ist, der an der Welt krank wird“, hat er eingangs gesagt. Wenigstens das hat funktioniert. Es ist mehr, als man denkt.

Hagen Rethers Bühne-Requisiten: Bürostuhl, Steinway-Flügel, Bananen. Letztere lässt er heute in Dortmund unangetastet.
Hagen Rethers Bühne-Requisiten: Bürostuhl, Steinway-Flügel, Bananen. Letztere lässt er heute in Dortmund unangetastet. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

„Wir schaffen das“ – aber bei Hagen Rether anders als bei Angela Merkel

Den wichtigsten Satz sagt Rether jedoch, als er nach den stehenden Ovationen fast schon von der Bühne ist: „Wir schaffen das“, ruft er leise im Gehen aus. Dann verschluckt ihn der schwarze Bühnenvorhang. Und nach all den berechtigten Weltuntergangsszenarien des Abends sind diese drei Wörter, überbracht mit aufrechtem Grimm statt mit Merkel’scher Dösigkeit, genau jene Portion Hoffnung und Mut, die es braucht, um am nächsten Tag wieder aufzustehen.