Oberhausen. Der Boykott-Aufruf als Folge des Nahost-Konflikts hat dem Festivalprogramm nicht geschadet. 450 Filme sind zu sehen. Ein Überblick.
Endzeit-Visionen und die Ruhe der Natur, politische Statements und Geschichten. Blicke nach Paraguay, in den Sudan, nach China, in den Iran – oder in eine Kneipe, Ort deutscher Befindlichkeit, wo sich Tina und Lola „Bei Gino“ die Kante geben. Wenn sich ab Mittwoch, 1. Mai, in Oberhausen der Vorhang für die 70. internationalen Kurzfilmtage öffnet, kommen Filmschaffende aus aller Welt zu Wort.
Ein runder Geburtstag, der im Vorfeld allerdings unerwartet für Schlagzeilen sorgte. Nach den Angriffen auf Israel im Oktober vorigen Jahres hatte Festivalleiter Lars Henrik Gass auf Facebook zur Solidaritätskundgebung aufgerufen. Anlass für einen geharnischten Boykott-Versuch, den rund 1500 Filmschaffende unterzeichneten. Nun geht das traditionsreiche Filmfest im Schatten des Nahostkonflikts mit erhöhten Sicherheitsvorkehrungen über die Bühne.Der Wirbel, räumt Sabine Niewalda vom Leitungsteam ein, hat sich immer noch nicht ganz gelegt. Umso kurioser, weil das Thema inhaltlich keine Rolle spielt.
Gass wird für seinen Einsatz von der Deutsch-Israelischen Gesellschaft am 8. Juni mit der Ernst-Cramer-Medaille geehrt, „in Würdigung seiner besonderen Verdienste um die deutsch-israelischen Beziehungen“.
15 Filme wurden nach dem Boykott-Aufruf zurückgezogen, der Fülle des Programms hat das nicht geschadet: Rund 6500 Beiträge wurden eingereicht, 450 sind zu sehen. 117 davon starten im Wettbewerbsrahmen, bei denen es um Preisgelder von insgesamt 40.000 Euro geht. Neben internationalen Beiträgen treten deutsche Filme und Produktionen aus NRW gegeneinander an. Und das ist noch nicht alles, was das weltweit wohl älteste Kurzfilmfest zu bieten hat. Es gibt einen eigenen Wettbewerb für Kinder- und Jugendfilme und den MuVi-Preis, mit dem Musikvideos gekürt werden; zehn Clips sind nominiert. Bemerkenswert: Fünf entstanden mit Hilfe von KI, laut Niewalda ein Zeichen für die Experimentierfreudigkeit des Genres. Da ist etwa der Beitrag von Markus S. Fiedler. In seinem Clip versucht ein Regisseur, aus einer Postpunk-Band mittleren Alters eine dynamische Tanzgruppe zu machen („Grunewald is Burning“).
Sport und alte Schätze: 300 Beiträge im Sonderprogramm der Kurzfilmtage Oberhausen
Aber auch wer sich lieber auf dem Sportplatz als auf dem Dancefloor tummelt, ist beim Filmfest gut aufgehoben. Im prallen Sonderprogramm (300 Filme) finden neben Künstlerbeiträgen und Perlen der Vorjahre („Übersehene Filme“) auch historische Sportfilme Platz. Ein Schwerpunkt zum 70. Geburtstag – zusammengestellt aus dem Archiv der Sportfilmtage Oberhausen, 1968 bis 1977. Zusätzlich zeigt die Kinemathek im Ruhrgebiet alte Schätze, etwa einen Stummfilm vom Fußball-Länderspiel Deutschland-Italien anno 1924.
„Auseinandersetzungen mit einer Welt in der Krise“ könnte über den Wettbewerbsfilmen stehen. Kleine Dokumentationen, Spielfilme, Animationen oder Essays, zwischen drei und 30 Minuten kurz. Auffällig: Vielen Filmerinnen und Filmern geht es um die Natur, besonders um das Verhältnis zwischen Mensch und Tier. Da kann man die Carneddau-Ponys in Wales beobachten, sie leben frei wie der Wind. Die Mini-Doku „The Gathering“ der Britin Laura Cooper begleitet den einzigen Eingriff der Menschen: Einmal jährlich treiben Farmer die vom Aussterben bedrohten Tiere für einen Gesundheits-Check zusammen.
Die Kurzfilmtage Oberhausen erzählen von einer Protestaktion iranischer Frauen
Blicke aus einer Wildkamera hat Dzhovani Gospodinov aus Luxembourg zum Kurzfilm geadelt, Poesie aus Wind, Blättern, Staub, Regen und zauberhaft-zaghaften Lebewesen – eine betörende Abkehr von der Welt („Meadows Wait, Mist Diffuses“). Umso drastischer: Die Doku „Abstechen – Sticking Picks“ von Angelika Reitzer aus Österreich.
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Sie blickt Gregor, dem Bauern, beim Schlachten über die Schulter. Trotz bewusster wackeliger Unschärfe: Das ist nichts für schwache Nerven. Eher „Gezielt mittelalterliche Überlegungen“, die Paula Milena Weise und Finn Ole Weigt für den deutschen Wettbewerb einreichten: Im 25-Minuten-Spielfilm berichten sie, was passiert, als die gestresste Lehrerin Frau Schröder mitten in der Stadt auf einen ausgebüxten Bären trifft. Tipp für alle Lebenslagen: Sich so groß machen wie es eben geht.
Aber auch Politik und Gesellschaft spielen eine Rolle, besonders eindringlich bei einem Beitrag aus dem Iran. In „Ba Gheyde Mahramanegi“ erzählen Shervin Vahdat und Payam Azizi von einer Protestaktion iranischer Frauen gegen ihre Männer. In einer geheimen Zusammenkunft entsteht ein Brief an lokale Autoritäten, der am Ende die Polizei auf den Plan rief. Eine starke 16-Minuten-Doku: Nur eine Frau traut sich, ihr Gesicht zu zeigen.
Kopfkino und satte Ironie bei den Kurzfilmtagen Oberhausen
Noch weniger braucht Stammgast Bjørn Melhus, der im Deutschen Wettbewerb antritt. Sein Fünf-Minuten-Film „Dramatic music continues“ zeigt einen schwarzen Bildschirm, eingeblendet werden Untertitel für Hörgeschädigte aus Kriegsfilmen („gun clicks“, „gunshot“, „heavy breathing“). Kopfkino. Und satte Ironie – etwa bei Fariba Buchheim. In „A War I‘ve Never Seen“ begleitet sie die beiden jungen Franzosen Julia und Julien, die sich mit Gleichgesinnten zu Reenactment-Spielen in der Normandie treffen. Sie imitieren deutsche Fronthelfer und Soldaten im Zweiten Weltkrieg und gehen dabei erschütternd naiv ans Werk. Julia gefallen die Uniformen und die Pünktlichkeit der Deutschen. Und die Massenvernichtung? „Kompliziert. In unserem Hobby sind wir unpolitisch. Das kann die Welt einfacher machen.“
Einen wunderbaren, tieftraurigen kleinen Animationsfilm legen David Jansen und Sophie Biesenbach-Jansen schließlich im NRW-Wettbewerb vor. Lebendig gewordene Schwarz-Weiß-Malerei zeigt die Welt nach der globalen Katastrophe: Eine Eiswüste, in der Mensch und Tier ums Überleben kämpfen („The Garden of Alalá“). Und dann ist da noch die Generation Z, ein Animationsfilm von Lindi, dreieinhalb Minuten, ebenfalls im NRW-Ranking („Alltagstalente“): Drei Jugendliche wollen an einem Talentwettbewerb teilnehmen, doch erst fällt ihnen nichts ein und dann sind sie zu spät. So oder so spielt das Leben.