Mülheim. Verliebt in die deutsche Sprache: Der Mülheimer Theatermacher mit internationalem Legenden-Status wird am 1. April 90 Jahre jung.
Also vor wenigen Wochen Roberto Ciullis jüngste Regie-Arbeit „Der wilde Harlekin“ im Theater an der Ruhr Premiere feierte, saß die große Eva Mattes im Publikum und spendete minutenlang Beifall, wie alle anderen. Die Schauspielerin will gemeinsam mit Ciulli, der am Ostermontag seinen 90. Geburtstag feiern kann, ein Stück für das Kunstfest Weimar erarbeiten. Worin sich nicht nur spiegelt, wie jung das Theatermachen den promovierten Philosophen aus Mailand gehalten hat, sondern auch, dass es sich bei Ciulli um einen Bühnenmagier von nationalem, ja internationalem Rang handelt. Vergessen wir nicht, dass das Theater an der Ruhr jahrzehntelang ein Aktivposten deutscher Außenpolitik war, dass es mit seinen vielen „Seidenstraßen“-Projekten das Völkerverbindende der Kultur und den wechselseitigen Austausch auf Augenhöhe zu seiner Botschaft gemacht hat – lange bevor der Begriff von der chinesischen Hegemonialstrategie so ganz anders geprägt wurde.
Roberto Ciulli ist promovierter Philosoph und war Lastwagenfahrer
Das Theater des Roberto Ciulli ist allerdings das Gegenteil einer doktrinären Lehrstunde: Es ist die Sinnlichkeit, die Poesie der oft surrealen, traumverbundenen Bilder, es sind die intensiven Seelenlandschaften und die gegenwartsverbundenen Expeditionen in die Vergangenheit, die sein Publikum ungeahnte, unerhörte, neue Dinge sehen lässt. Der Urgrund aber, aus dem Ciullis Theaterschaffen sich stets aufs neue speist, ist der Clown. „Ich habe den Clown seit meiner Kindheit in mir“, bekannte er, der 1934 als Spross einer ebenso großbürgerlichen wie zerrütteten Familie zur Welt kam. Und meinte damit auch, dass die rote Nase oft eine blutige war. Wohl niemand in Deutschland weiß so viel über Clowns, über den wilden, anarchischen roten und den vernunft- wie boshaftigkeitsbegabten weißen Clown. Und auch das ist bezeichnend: Während am Theater meist Schauspieler, die in die Jahre kommen, ins Regiefach wechseln, war es bei Ciulli umgekehrt: Je älter er wurde, desto häufiger stand er auf der Bühne.
Eine äußerst erfolgreiche Bühnen-Trilogie hat Ciulli ihnen gewidmet. Aber sie sind auch ein roter Faden seines Bühnenschaffens, als Widerstandskämpfer gegen eine Welt, die nicht so ist, wie sie sein sollte. Bis hin zum „Kleinen Prinzen“, den Ciulli jahrzehntelang verkörperte und dem er gerade als alter Mann auf einem Kinderfahrrad ungeahnte Tiefe abrang.
Roberto Ciulli pflegt eine kaum zu überschätzende Liebe zur deutschen Sprache
Er sei von seiner Mutter schon mit drei Jahren mehrmals täglich ins Kino mitgenommen worden, verriet er vor wenigen Jahren, und diese Mutter habe – in den unheilvollen 30er- und 40er-Jahren – alles Deutsche bedingungslos verehrt. Davon ist dem bis heute charmant mit seinem Akzent spielende Ciulli eine kaum zu überschätzende Liebe zur deutschen Sprache geblieben, zu ihrer Genauigkeit und Abstraktionsfähigkeit.
Ciulli kam als „Gastarbeiter“ nach Deutschland, der sich als Stücklohn-Arbeiter bei Bosch, als Lastwagenfahrer und Beleuchter durchschlug, bevor er, zunächst in Göttingen, dann in Berlin und Düsseldorf Regie führte und schließlich von 1972 bis 1979 Schauspieldirektor in Köln wurde. Seine frustrierenden Erfahrungen mit der Bürokratie des Stadttheaterbetriebs ließen ihn, der schon mit 26 Jahren in Mailand ein Theater namens „Il Globo“ gegründet hatte, mit dem Theater an der Ruhr in Mülheim ein Experiment wagen, das bis heute eine Sonderstellung in der deutschen Theaterlandschaft genießt: Es finanziert sich weniger durch städtische Zuschüsse als vielmehr durch Gastspielreisen und Drittmitteln von Land und Bund. Gerade in der laufenden Saison lässt die Bühne einen neuen Versuchsballon steigen und hat seine Spielweise vom herkömmlichen Spielplan auf drei Festivals pro Saison umgestellt.
Ciulli weist gern darauf hin, dass das Theater an der Ruhr in drei Dutzend Ländern gastierthat und Theatertruppen aus ebensovielen Ländern nach Mülheim holte, wo ihm als Glücksfall bald nach der Gründung 1980 das alte Solbad im Raffelbergpark zur Spielstätte wurde: Hier treffe der Name „Il Globo“, also die Welt, noch viel mehr zu als damals in Mailand. Und hier gelangen ihm Regie-Arbeiten, die auf der Bühne Jahre, ja Jahrzehnte erlebten, ohne zu veralten wie Peter Handkes „Kaspar“. Seine Inszenierungen sind dem griechischen Ursprung des Theaters verpflichtete Feste, Feiern, ja kultische Handlungen. Ein Grund, warum er bei Jubiläen und runden Geburtstagen stets abzuwinken pflegt.
Roberto Ciulli leidet bis heute an der jahrzehntelangen Ökonomisierung der Gesellschaft, an der Entsolidarisierung, am „Mangel an Scham“. Daraus schlägt er immer noch glühende Funken für die Bühne, wie in seinen jüngsten Inszenierungen, die den hochsensiblen Theater-Revolutionär und freien, eigensinnigen Denker Antonin Artaud in den Mittelpunkt rücken. In ihm hat Ciulli einen zutiefst Seelenverwandten erkannt. Und wie anders hätte er den allzu frühen Tod seiner langjährigen Lebensgefährtin Simone Thoma verarbeiten können als – auf dem Theater. Sie spielt als Videoaufzeichnung im Bewusstsein ihres nahen Todes eine entscheidende Rolle in „Ich, Antonin Artaud“.
Roberto Ciulli errichtete auf der Bühne ein Altersheim für Clowns
Roberto Ciulli fordert gern Theater als Pflichtfach in den Schulen und er leidet an der Entpolitisierung der Politik, am Verlust an Solidarität in der Gesellschaft, an der zunehmenden Aggressivität der Menschen. Es treibt ihn um, es treibt ihn an. Er, der selbstironisch in „2 1/2 Clowns“ schon ein Altersheim für diese Schamanen des Lachens auf der Bühne errichtet hat, sagte mit 72 so weise wie vorausschauend: „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich wieder modern bin.“