Mülheim. Bilderrausch, Jubel und stehende Ovationen im Theater an der Ruhr für die Premiere des zweite Artaud-Stücks vom Meisterregisseur (89).
Die Zeit, in der Aufmerksamkeitsspannen des Publikums noch für schier unendlich gehalten wurden, gehen im Theater allmählich zu Ende. Je üblicher Drei-Stunden-Filme im Kino werden, desto weniger trauen sich die Regisseure und Regisseurinnen im Theater, ihren Gästen (und nicht zuletzt den strapazierfähigen Mimen) solche Drei-, Vier- oder Fünf-Stunden-Abende zuzumuten, wie sie einmal gang und gäbe waren, auch im Theater an der Ruhr. Zu solchen Zeiten wäre Roberto Ciullis neues Stück „Ich Artaud – Der wilde Harlekin“ der dritte oder fünfte Akt eines langen Abends gewesen. So aber setzte am Freitagabend schon nach gut anderthalb Stunden ein jubelnder, lang anhaltender Beifall ein, der in gestandenen Respekt vor dem jüngsten Coup des Theater-Altmeisters Ciulli mündete.
Roberto Ciullis Entdeckung setzt „Ich Artaud – Le Mômo“ fort
„Der wilde Harlekin“ ist nicht so ein Feuerwerk der Einfälle, nicht so vielschichtig und anspielungsreich gebaut wie Ciullis erste Verbeugung vor dem Bühnen- und Film-Radikalen Antonin Artaud, dem Surrealisten, der mit seinem „Theater der Grausamkeit“ die Inszenierungen mit einem Reichtum an Bildern von allzugroßer Textlastigkeit befreien, zum Ursprung des Dramas als Mysterienhandlung zurückkehren wollte. Mit „Ich Artaud – Le Mômo“ beschwor Ciulli das wilde, wendepunktreiche, tragische Leben des sagenumwobenen Theaterrevolutionärs als Scheitern an eben jenen Verhältnissen herauf, gegen die er zeitlebens anrannte. Das neue Stück ist eher die wiederum bildstarke Farce zur Tragödie, aber mit derselben, fundamentalen Zivilisationskritik.
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Der Theaterhimmel bleibt derselbe: Eine Art Urwald-Astgestrüpp, durch das dem immer wieder Blitze zucken, die auch Artauds Hirnströme sein könnten. Der Theaterrebell ist immer noch in der Psychiatrie, zu Beginn hockt er am Patienten-Nachtschränkchen.
Aber nun wird der Patient zum Regisseur, zum Schauspieler: Er inszeniert und spielt, sehr artaudhaft, ein frühaufklärerisches Commeda-dell‘arte-Stück des Franzosen Louis-Francois Delisle de la Drevetière (1682-1756). „Der wilde Harlekin“ von 1721, damals ein echter Bühnenrenner, wiederum beruht auf der Entdeckung dieses Theater-Abends: Den Reiseberichten des verarmten französischen Adeligen Baron de Lahontan, der als Soldat, Offizier und Abenteurer im britisch-französischen Krieg um das heutige Kanada nordamerikanische Indigene kennen und schätzen lernte, sich deren Algonkin-Sprachen aneignet und ihren beeindruckenden Politiker Kondiaronk, den Chef eines Huronen-Stammes, mit nach Europa brachte. Dessen Erfahrungen mit der westlichen Zivilisation waren das Vorbild für den „wilden“ Bühnen-Harlekin.
In Roberto Ciullis Version wird Antonin Artaud zum „guten Wilden“ als Utopie
In Ciullis Variation wird Artaud als „Wilder“ nicht nur den zivilisations-versteiften Europäern den Spiegel vorhalten („Habt Ihr keinen Spiegel für die Seele?“), sondern auch das Gegenbild des „guten Wilden“, des freien, unverbildeten Menschen abgeben. Der fragt, ob denn alle Europäer Narren oder Verbrecher seien, die nur durch Gesetze zu jener Vernunft gebracht werden können, die für „Wilde“ ohnehin der Maßstab ihres Handelns sei: „Ihr kommt mir vor wie dumme Tiere“.
So einer weiß, dass „der Reichtum der Menschen ihre Bedürfnisse nur vermehrt: Ihr seid Sklaven, die sich für frei halten!“ So einer spielt bewusst mit seiner Wildheit, spielt den Clown. Und fackelt auch in Liebesdingen nicht lange, sondern mit schreitet mit seiner blitzschnell entdeckten Herzensdame Violetta, einer Dienstbotin, zur Tat – mit lustigem französischen Liebesgeflüster, hinterm Vorhang, der zuvor eine Bühne auf der Bühne war.
Bernhard Glose, der schon beim ersten Artaud-Stück in der Titelrolle glänzte, wird nun zum vitalen, virilen Wunschmenschen. Sein hochbewegliches, elegantes, vom Utopischen durchdrungenes Spiel findet wiederum sein Pendant in Ciullis einfallsprallen Bildern, in denen etwa fast das ganze Ensemble in einer kleinen Guckkasten-Bühne zum Rokoko-Marionettentheater erstarrt.
„Der wilde Harlekin“ lobt auch die Wirkung des Peyote-Kaktus mit seinem Meskalin
Elisabeth Strauß hat die Mode der Zeit mit Liebe zum Detail ins Groteske gesteigert; nur der wilde Artaud trägt einen Anzug wie von heute mit allzu schlackernden Hosenbeinen, die so etwas wie der Anfang einer Befreiung sein könnten. In der Mitte ihrer Bühne ist zunächst ein Meer, aus dem später die Figuren der Komödie emporsteigen werden. Immer wieder überzeugen auch die kleinen Bilder: Wie der Pantalone (Albert Bork) sich in seine Sänfte setzt und die, ohne tragfähige Diener, zum Gefängnis zu werden droht: die komplexe Dialektik von Herr und Knecht in nuce, aus der sich der Herr mit mühsamer Schlepperei befreien muss. Dazu ist Joshua Zilinske ein erzkomischer Mario mit höchst ansteckendem Lachen und abstoßender Unverschämtheit.
Am Ende steigt Rauch auf über dem Wilden. Einmal mehr hatte Artaud die Wirkung des Kaktus-Extrakts Peyote gelobt, dessen Meskalin das LSD der Indigenen war. Es entführte den Europäer aus seinen Zwängen und ließ ihn eins werden mit der Welt, die ihm zuvor so zugesetzt hatte. Ein Traum.