Essen. Krautrock, Düsseldorf und ein Wunder in den USA: Ein Buch lässt die Geschichte des Elektronik-Klassikers liebevoll Revue passieren.

Wie anders die Zeiten damals waren, als Menschen auf der Autobahn noch „fahrn, fahrn, fahrn“ konnten! Im Stauland Nr. 1 rund um Düsseldorf hat der Refrain des bekanntesten Kraftwerk-Songs noch utopischere Züge als bei seinem Erscheinen vor 50 Jahren. Damals war allerdings auch die Neuerscheinung von Pop-Platten noch nicht vom Dröhnen der Marketingmaschinen mit ihrem Interview-Singsang, Vorab-Singles und dem Klicken der Foto-Session begleitet. Und dass ein neues Album immer am Freitag der Erscheinungswoche rauskam, muss sich irgendwann später eingebürgert haben. Schließlich mussten Langspielplatten damals noch im Geschäft gekauft werden – und bis sich das bei den Fans herumsprach, dass sie dort standen, dauerte es oft Wochen, wenn nicht gar Monate.

„Autobahn“ von Kraftwerk wird von Jan Reetze eingebettet in die Krautrock- und Elektronik-Szene

So weiß denn auch beim Kraftwerk-Album „Autobahn“, das heute einen ikonenhaften Status wie sonst nur das „Mensch-Maschine“ Album der Düsseldorfer Elektro-Pioniere genießt, niemand so richtig, wann genau es vor einem halben Jahrhundert auf den Markt kam. Den 1. November, der überall zu lesen ist, hält Jan Reetze eher für eine „Absichtserklärung“, deren Erfüllung niemanden interessiert hat. Der in Hamburg aufgewachsene Popmusik-Kenner Jan Reetze hat die Geschichte dieses Albums, das zu seinen Lieblingen zählt, gründlich recherchiert und mit etlichen Details aufgeschrieben, Aha-Effekte inklusive.

Der Band-Name von Kraftwerk soll von DDR-Fußballclubs wie Dynamo Dresden und Energie Cottbus abgeleitet sein

Das reicht vom anfänglichen Widerstand gegen Synthesizer in der Musikszene (US-Gewerkschaften handelten sogar aus, dass für jeden Synthesizer auf der Bühne Musiker eingestellt werden mussten, die dann backstage Karten spielen konnten) bis zum kompetenten Überblick zur deutschen Krautrock-Szene, die ab 1971 die wildesten Sprossen und Blüten trieb. Jan Reetze rekapituliert die Geschichte von Kraftwerk bis zum „Autobahn“-Album, deren Vorläufer-Band tatsächlich im schönsten Ärmelschoner-Deutsch den Namen „Organisation zur Verwirklichung gemeinsamer Musikkonzepte“ gehabt haben soll, woraus dann die Kurzform „Organisation“ wurde.

Florian Schneider und Ralph Hütter etwa im Jahr 1973. Schneider, dessen Vater Paul Schneider-Esleben (1915-2005) als Architekt das Mannesmann-Hochhaus am Düsseldorfer Rheinufer entworfen hat.
Florian Schneider und Ralph Hütter etwa im Jahr 1973. Schneider, dessen Vater Paul Schneider-Esleben (1915-2005) als Architekt das Mannesmann-Hochhaus am Düsseldorfer Rheinufer entworfen hat. © Michael Ochs Archives/Getty Images | Kraftwerk

Ralf Hütter und der Architektensohn Florian Schneider-Esleben, die sich bei einem Improvisationskurs an der Akademie Remscheid kennengelernt hatten, sollen dann bei einem Trip durch die DDR durch Fußballvereins-Namen wie „Dynamo“, „Lokomotive“ oder „Energie“ darauf gekommen sein, ihre Band Kraftwerk zu nennen. So hieß 1970 auch das erste Album der Band. Ihr erstes Konzeptalbum „Autobahn“ war dann das vierte. Hütter gehörte übrigens zu den ersten, die in Deutschland einen Minimoog-Synthesizer hatten, „er war monophon und kostete genauso viel wie mein grauer Volkswagen Standard“, der auch auf dem „Autobahn“-Album abgebildet ist, erinnert sich Ralf Hütter: „Der Synthesizer war für mich viel wertvoller als das Auto. Mit dem Auto konnte ich in der Gegen herumfahren, aber mit dem Synthesizer konnte ich mir die Welt erschließen.“

Klaus Schulze und Tangerine Dream, die einen gebrauchten Moog-Synthesizer von Mick Jagger kauften

Während die Sythesizer selbst in den noch zukunftsfrohen frühen 70ern vielfach auf Ablehnung stießen, gab es gerade in Deutschland experimentierfreudige Musiker von Tangerine Dream über Neu! bis Klaus Schulze: Sie scheuten weder die noch fälligen hohen Geldsummen für den Moog-Synthesizer (Tangerine Dream kaufte einen gebrauchten von Mick Jagger, der damit nichts anfangen konnte) noch die begrenzten Möglichkeiten der etwas preiswerteren und handlicheren Weiterentwicklung Minimoog. Zur neuen Szene Elektronischer Musik, die nicht andere Instrumente mit dem Synthesizer imitieren, sondern neue Klangwelten erschließen wollte, gehörte auch Kraftwerk. Spätestens mit „Autobahn“.

Kraftwerk beim 39. Montreux Jazz Festival 2005 im Outfit des „Mensch-Maschine“-Albums.
Kraftwerk beim 39. Montreux Jazz Festival 2005 im Outfit des „Mensch-Maschine“-Albums. © dpa | epa Keystone Martial Trezzini

Gerade erst war Deutschland, einig Autoland durch die Ölkrise im Gefolge des Nahostkriegs 1973, zutiefst verunsichert durch autofreie Sonntage. Aber noch war Autofahren ein Inbegriff von Freiheit und Fortschritt. Ökologische Bedenken wurden selbst in der Wissenschaft nur selten laut. Sonntägliches Herumfahren zum Landschafts- und Geschwindigkeits-Genuss ohne konkretes Ziel war allgemein üblich. Ebenso der Begriff „Sonntagsfahrer“ für Menschen, die ihr Auto nur am Wochenende für Ausflüge nutzten und entsprechend ungeübt den übrigen Verkehr verlangsamten.

Das Autogeräusch von „Autobahn“ taucht auch auf „Die drei ??? und der Teufelsberg“ auf

Kraftwerk ließ den „Autobahn“-Titeltrack mit einer Hupe (imitiert durch ein E-Piano) und einem startenden Motor beginnen, dessen Geräusch von rechts in die Mitte des Hörfelds einzufahren scheint. Im Gegensatz zu weit verbreiteten Behauptungen stammt der Sound nicht von Ralf Hütters VW, sondern von einer Geräusch-Schallplatte. Jan Reetze verweist darauf, das dasselbe Geräusch auch im Hörspiel „Die drei ??? und der Teufelsberg“ zu hören ist (und vermutet, dass auch der einfahrende Zug im späteren Kraftwerk-Album „Trans-Europa-Express“ von dieser Geräusch-LP stammt).

Das Original-Cover der „Autobahn“-LP.
Das Original-Cover der „Autobahn“-LP. © Capitol 1974 | Capitol 1974

In der Originalversion, die für Reetze immer noch das Maß aller Dinge ist, dauerte „Autobahn“ 22 Minuten und 40 Sekunden und nahm damit die gesamte erste Seite der LP in Anspruch. Dass die Band dort „Vor uns zieht ein breites Tal“ singt, hält Reetze für einen Fehler (statt „liegt ein breites Tal“), den man einfach in der Aufnahme beließ. Auf der B-Seite folgen „Kometenmeldie“ 1 und 2 sowie „Mitternacht“ und „Morgenspaziergang“. Das Cover ist übrigens ein Gemälde des zeitweiligen Band-Mitglieds Emil Schult, ein Beuys-Schüler. Die gesamte Platte sieht Jan Reetze im Rang einer „sinfonischen Dichtung“.

Zum Hit wurde „Autobahn“ erst durch die rasant gekürzte Single-Fassung aus den USA

Zum echten Hit wurde „Autobahn“ dann durch ein sensationelles Ereignis: In den USA kürzte man „Autobahn“ auf eine 3.27 Minuten kurze Single-Fassung ein. Und die sorgte dafür, dass die LP am 8. Februar 1975 die US-Billboard-Charts enterte, am 3. Mai desselben Jahres stand sie gar auf Platz 5. Die Verkäufe wurden sechsstellig, ob die 500.000 für eine Goldene Schallplatte erreicht wurden, ist heute umstritten. Die Amerikaner misshörten übrigens oft „We‘ve fun, fun, fun on the autobahn“, „Wir haben Spaß, Spaß, Spaß auf der Autobahn“. Die Single wurde dann auch in Deutschland noch einmal zum Erfolg, im Mai 1975 erreichte sie Platz 9 der deutschen Verkaufs-Hits – und hievte auch die Langspielplatte noch einmal auf Platz 7.

Seither ist die Platte ununterbrochen im Handel zu kaufen. Insgesamt seit 50 Jahren. Ihr Kult-Status dürfte allerdings auf einer einmaligen Mischung aus Avantgarde und Nostalgie beruhen.

 Jan Reetze, in Hamburg aufgewachsener Musik- und Studio-Kenner, schrieb eine Liebeserklärung an die Kraftwerk-Platte seiner Jugend.
 Jan Reetze, in Hamburg aufgewachsener Musik- und Studio-Kenner, schrieb eine Liebeserklärung an die Kraftwerk-Platte seiner Jugend. © Halvmall | Halvmall

Jan Reetze: Die Geschichte von Kraftwerks „Autobahn“. Liebeserklärung an ein 50 Jahre altes Album. Halvmall Verlag, 158 S., 18 €.