Gelsenkirchen. Das Ruhrgebiet hat einen neuen Musical-Magneten. Der Beifall für „Hello, Dolly!“ am Musiktheater in Revier kannte kein Ende. Wir waren dabei.

Wann hat man zuletzt in einer Premiere so überdeutlich gespürt, wie es ein „klassisches“ Publikum in diesen Zeiten dürstet nach einem Abend, in dem die ganze dunkle Welt einfach nur drei Stunden draußen bleibt?! Samstag Abend feierte es am Musiktheater im Revier frenetisch ein 60 Jahre altes Schätzchen vom Broadway: „Hello, Dolly“.

Alt? Die Region hat ziemlich sicher einen neuen Musical-Renner auf dem Spielplan. Das ist irgendwie erstaunlich, denn Jerry Hermans Musik weist außer dem Titelsong kaum Ohrwürmer auf. Aber wenn die immer noch souverän komponierten anderen Songs so gut serviert werden, wenn die Regie derart herzenswarm und augenzwinkernd ihrer Geschichte treu bleibt, wenn ein Ensemble bis in die kleinste Rolle so lustvoll-leidenschaftlich dem Entertainment huldigt, dann ist das einfach: gut!

„Hello, Dolly“: Begeistert gefeierte Premiere am Musiktheater im Revier

Und noch besser als gut, dass Carsten Kirchmeiers Regie sich zwanghafter Aktualisierung verweigert. Wir erinnern uns: Dolly ist Heiratsvermittlerin, listig, aber total unseriös, eine Frau am Rande des Existenzminimums. Sie verkuppelt in der Provinz nahe New York nicht nur wie verrückt andere: Ihren schwierigsten Klienten, den verknöcherten Pfeffersack Vandergelder, lenkt sie auf Umwegen ins eigene Netz. Die Story hätten Dutzende Mode-Inszenierungen durch den Fleischwolf von Parship bis Tinder gedreht. Im Musiktheater im Revier aber ist Retro das neue Cool.

Es rascheln die Roben, es wirbeln die Straußenfedern – und wenn Dolly (Anke Sieloff gibt sie lebensklug: „Lustige Witwe“ aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten) als „Diamonds are a girls best Frieds“-Monroe auf die Bühne schwebt, dann ist das nicht weniger als eine nostalgische Charme-Offensive, die alles überdauert.

Publikumslieblinge von der ersten Minute an: Nicolai Schwab und Sebastian Schiller (r.) als geknechtete Mitarbeiter Horace Vandergelders in „Hello, Dolly!“ am Musiktheater im Revier.
Publikumslieblinge von der ersten Minute an: Nicolai Schwab und Sebastian Schiller (r.) als geknechtete Mitarbeiter Horace Vandergelders in „Hello, Dolly!“ am Musiktheater im Revier. © MiR | Pedro Malinowski

Jürgen Kirners Bühne lässt Symbole ins Gigantische explodieren. Vandergelders kleinkarierte Krämerwelt ist eine riesige Registrierkasse, deren Bauch die ausgebeuteten Mitarbeiter ausspuckt. Später, als sich im Big Apple die Intrige zuspitzt, stehen enorme Hutschachteln für Damenmode, eine übermannshohe Serviette fürs teuerste Lokal der Stadt.

Kirchmeiers Regie ist von bestechender Sicherheit. Er nimmt das Stück wie es ist: eine Komödie mit Herz und einer Prise Lebensweisheit. Die bei Musicals oft schleppenden Dialoge hat Kirchmeier extrem pointensicher im Griff. Und noch in den großen Tableaus, da zwei Dutzend Typen den Raum füllen, zeigt er eine rare Liebe zu Witz und Detail. Dass die Kostüme (Beata Kornatowska) weniger Bonbontöne vertrügen, die Choregrafie (Paul Kribbe) im Fernsehballett aus den Tagen Peter Frankenfelds steckenbleibt, ist schade, den Spaß zu trüben vermag es nicht.

Carsten Kirchmeier führt Regie, Anke Sieloff singt die Titelrolle in „Hello, Dolly!“

Alle müsste man im hingebungsvolles Ensemble nennen, exemplarisch preisen wir Dirk Weilers Vandergelder, der auch der Macho-Karikatur noch Zwischentöne der Menschlichkeit abgewinnt. Einfach nur köstlich: Nicolai Schwab und Sebastian Schiller, die als Landpomeranzen in der Weltstadt auf dicke Hose machen. Eine erzkomödiantische Perle lässt Sonja Hebestadt als kleine Hutverkäuferin Minnie funkeln.

Ob Kellner, Koch oder Kaufmann: Der Opernchor glänzt als Chamäleon. Im Orchestergraben regiert Showbiz auf sinfonischem Niveau. Welcher Genuss, Hermans Sound in großer Besetzung zu hören. Peter Kattermann leitet die Neue Philharmonie Westfalen, die Seidiges schimmern lässt, rührend melancholisch seufzen kann und, wo nötig, als Big Band im Edelformat auftrumpft. Ein starker Abend für Freundinnen und Freunde des Musicals.

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TICKETS UND TERMINE

„Hello, Dolly“, Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen, 2:40h, eine Pause. Karten von 15-55€ unter 0209-4097200 oder unter musiktheater-im-revier.de

Termine: 21./26. Januar. Im Februar: 2./4. März: 16./24. April: 1./28. Mai: 5./20. Juni: 1./22 und 7. Juli.