Essen. Zweieinhalb Stunden voller Spannung. „Anatomie eines Falls“ ist Gerichtsthriller und Rätsel-Krimi. Warum man diesen starken Film sehen sollte.
Ein Mann liegt tot in seinem Blut. Samuel ist aus dem Fenster seines Hauses am Rande der französischen Alpen gestürzt. Seine Frau Sandra, eine Deutschstämmige, war im Haus, hat aber nichts mitbekommen, weil sie ein Nickerchen hielt. Daniel (Milo Machado Graner), der elfjährige Sohn der beiden, befand sich in der Nähe, da er fast blind ist, kann man seiner Wahrnehmung nur bedingt trauen. Außerdem war ja die Musik im Haus furchtbar laut...
Die Szenen lassen ahnen, dass etwas nicht stimmt zwischen dem Mann, der unterm Dach Arbeit verrichtet, und der Frau, die eine Studentin zum Interview eingeladen hat. Tags drauf kommt ein Mann ins Haus. Maitre Renzi (Swann Arlaud) ist Anwalt und holt Erkundigungen ein für seine Verteidigung der Ehefrau. Sandra ist des Mordes verdächtig. Sie war im Haus, sie hat ein Motiv, sie hat kein wasserdichtes Alibi. Der Prozess wird für die Angeklagte ebenso zur Belastungsprobe wie für ihren Sohn.
Neu im Kino: „Anatomie eines Falls“ mit der großartigen Sandra Hüller
Dies ist der Film, der dieses Jahr auf den Filmfestspielen in Cannes mit dem Hauptpreis, der Goldenen Palme, ausgezeichnet wurde. Regie führte die Französin Justine Triet, die auch am Drehbuch mitgeschrieben hat. Triets Inszenierungsstil ist kühl, was für die Erzählweise ebenso gilt wie für die Bildgestaltung. Frühwinterlich tiefstehende Sonne vermag kaum einmal mit ihrem milchigen Licht durch die Wolken zu dringen. Die zentralen Figuren sind von fahler Hautfarbe. Eine freudlose Atmosphäre durchweht diesen Film, womit Triet eine deutliche Abkehr betreibt zu ihren zwei vorangegangenen Filmen „Victoria“ und „Sibyl“, die geprägt waren von kräftiger Farbgebung und einem Klima schwüler Sinnlichkeit. Was auch der Hauptdarstellerin Virginie Efira geschuldet war, die in beiden Filmen psychisch angeschlagene Frauenfiguren von offensiver erotischer Ausstrahlung spielte.
Sandra Hüller dagegen spielt die Hauptrolle der Intellektuellen Sandra mit einer intensiv unerquicklichen Selbstbeherrschung, was einerseits sprachlichen Hürden (Sandra spricht zwar fließend französisch, muss aber für komplizierte Sachverhalte ins Englische wechseln) geschuldet ist, andererseits an der indifferenten Charakterzeichnung ihrer Rolle.
„Anatomie eines Falls“ von Justine Triet diese Woche im Kino
Als Kriminaldrama mit psychologischem Tiefgang bedient der Film das Subgenre des „Wer war’s“ ebenso wie den Gerichtsthriller. Buch und Regie stehen im Dienst einer kühlen analytischen Beobachtung ohne emotionale Effekthascherei. In diesem Punkt sowie in der recht langen Spielzeit von zweieinhalb Stunden lehnt Justine Triet sich eng bei zwei großen Vorbildern an, Otto Premingers „Anatomie eines Mordes“ von 1961 und André Cayattes „Kein Rauch ohne Feuer“ von 1973.
Spätestens in der zweiten Hälfte aber wird „Anatomie eines Falls“ vor allem zur Analyse einer Ehe im Auflösungsprozess. Der Film hält seine Spannung über die volle Distanz, weil er trotz zahlreicher Wendungen die Nähe zu den Figuren wahrt, ohne sich dabei Zuschauererwartungen allzu sehr anzudienen. Kleine zeitgeistbedingte Ausreißer sind da leicht zu verzeihen.