London. Die drei noch lebenden Rolling Stones haben in London ihr kommendes Studioalbum „Hackney Diamonds“ vorgestellt. Sie sind in bestechender Form.

Mick Jagger erinnert sich tatsächlich noch an die erste Pressekonferenz der Rolling Stones, oder zumindest tut er ganz glaubwürdig so. „Keith und ich saßen in einem Pub in der Denmark Street“, so der vor zwei Monaten 80 gewordene Frontmann der Rolling Stones, „und außer uns war noch ein Journalist vom NME“, also vom New Music Express, „und einer vom Melody Maker dort. Wir kauften den beiden ein Bier und sagten ‚Hier ist unser Album‘. Das war’s“.

Am Mittwochnachmittag war der Trubel ungleich größer. Um das seit knapp zwei Wochen und einer Anzeige in der Lokalzeitung Hackney Gazette quasi bestens bekannte Geheimnis endgültig zu lüften und ihr 24. Studioalbum namens „Hackney Diamonds“ offiziell anzukündigen, gaben sich Jagger, Keith Richards (79) und Bandküken Ronnie Wood (76) im Hackney Empire Theatre die Ehre, einem Gebäude im albumtitelgebenden trendigen Stadtteil im Osten der Metropole, das ein bisschen so ist wie die Rolling Stones selbst: Erbaut 1901 und seit langem unter Denkmalschutz stehend, wurde es vor zwanzig Jahren markant und stilvoll modernisiert, für viele ist es das schönste Theater in ganz London.

Ein einziger Riesenliebessturm für Mick Jagger, Keith Richards und Charlie Watts

Menschentrauben.
Menschentrauben. © dpa | Lucy North

Vor dem Empire: Trauben von Menschen. Und eine Reihe von Postern mit dem Logo der Band, die rote Zunge ein wenig zerborsten, darunter der Spruch „Let’s Dream Big“. Im Theater: Ungefähr 200 gespannte Medienschaffende. An den Bildschirmen: Zehntausende, denn das Ereignis wurde live auf der Youtube-Seite der Rolling Stones übertragen, goutiert von wirklich wahnsinnig vielen Herzchen im Live-Chat, es war online wie vor Ort ein einziger Riesenliebessturm für die drei alten Männer.

Die, das muss man ihnen lassen. Kein bisschen alt wirken an diesem Sommertag in London. Alle frisch frisiert, mit ein bisschen neuer Farbe im Haar und coolen, zumeist schwarzen Klamotten. Jagger trägt eine Bomberjacke, Richards’ Hut und runde Sonnenbrille – sie sehen wirklich lässig aus, als sie sich der Fragerunde mit dem US-amerikanischen Talkshow-Gastgeber Jimmy Fallon (48) hingaben. Der war anfangs sogar ein bisschen nervös, als er die „ultimative Rock’n’Roll-Band“ begrüßte, und wer Fallon kennt, der weiß, dass der Plausch garantiert nicht kontrovers, sondern kumpelig und lustig werden wird. Genauso kommt es auch.

„Hackney Diamonds“ erscheint am 20. Oktober

Die Fakten sind recht schnell referiert: Das Album erscheint am 20. Oktober und beinhaltet zwölf Songs, auf einem, „Tell Me Straight“ singt Keith, auf weiteren zwei („Live By The Sword“ und „Mess It Up“) ist noch einmal der 2021 verstorbene und, so Keith, „von uns allen schrecklich vermisste“ Schlagzeuger Charlie Watts zu hören; diese Aufnahmen waren die ersten fürs Album und entstanden schon 2019.

„Wir waren vielleicht ein bisschen zu faul“, so ein gut aufgelegter Jagger angesichts des Umstands, dass „Hackney Diamonds“ das erste Stones-Album mit neuen Songs seit „A Bigger Bang“ vor achtzehn Jahren sowie das erste neue Studioalbum überhaupt seit der Bluescoverplatte „Blue & Lonesome“ ist. „Wir brauchten jemanden, der uns in den Arsch tritt.“

Mit dem Produzenten von Iggy Pop, Ozzy Osbourne und Miley Cyrus

Nachträgliche Geburtstagsglückwünsche für den ewigen Mick.
Nachträgliche Geburtstagsglückwünsche für den ewigen Mick. © dpa | Lucy North

Dieser Jemand ist der 32 Jahre junge Andrew Watt, der aktuell vielleicht angesagteste Produzent (Iggy Pop, Ozzy Osbourne, Miley Cyrus) überhaupt. Mit Watts nahmen sie die neuen Stücke, die hier und da (etwa auf Jamaika) entstanden waren, in Los Angeles auf, und zwar mit einem Trick. Jagger: „Wir haben uns selbst eine Deadline gesetzt. Wir sind im Dezember ins Studio gegangen und haben 23 Songs aufgenommen. Im Januar waren wir fertig mit dem Aufnehmen und am Valentinstag war das ganze Album fertig abgemischt.“

Es sei eine runde Mischung geworden, wechselt Mick in den Werbeblock, mit „Liebesliedern, Balladen, Countrysongs“, aber auch vielen schnellen, knackigen, klassischen Stones-Rockern. „Whole Wide World“ sei sehr funky, „Driving Me Too Hard“ habe ein famoses Riff und „Sweet Sounds Of Heaven“ sei nicht nur ein wunderbarer Gospel-Pop-Song, sondern auch ein Duett mit Lady Gaga.

Mit Lady Gaga, Stevie Wonder, Paul McCartney und Bill Wyman

Das Album-Cover
Das Album-Cover © dpa | -

Weitere Gäste auf „Hackney Diamonds“ – der Titel sei, so Mick Jagger, eine Anspielung an die „zerborstenen Windschutzscheiben in Hackney an jedem Samstagabend“, daher auch die Scherben auf dem Cover und im neuen Logo – sind unter anderem Stevie Wonder, Paul McCartney sowie Ex-Bandbassist Bill Wyman. „Wir hätten dieses Album nicht veröffentlicht“, sagt Jagger, „wenn wir es nicht wirklich gern haben würden. Ich will nicht wie ein Angeber klingen“, haha, „aber wir sind wirklich richtig zufrieden mit dieser Platte.“

Es folgen auf der Bühne in Hackney noch ein paar Minuten Geplänkel und Gefrotzel, man geht der Frage nach, was das Geheimnis einer langen Beziehung sei (Jagger: „Nicht so viel miteinander reden“), und Jimmy Fallon erinnert daran, wie Keith Richards, damals noch passionierter Raucher, einmal hinter der Bühne seiner Late Show die Feuerwehr auf den Plan gerufen hatte.

Die neue Single „Angry“ – ein Blues-Rock-Stampfer erster Güte, in dem es um Sex geht

Rocker, Roller: Ronnie Wood (l-r), Mick Jagger und Keith Richards von den Rolling Stones während der Pressekonferenz zur Veröffentlichung des neuen Albums.
Rocker, Roller: Ronnie Wood (l-r), Mick Jagger und Keith Richards von den Rolling Stones während der Pressekonferenz zur Veröffentlichung des neuen Albums. © dpa | Scott Garfitt

Schließlich passiert das, worauf alle gespannt warten: Die Weltpremiere der neuen Single, „Angry“ heißt sie. Kurz wird noch die Hauptdarstellerin des in Los Angeles gedrehten, wie eine dreidreiviertel Minuten lange Männerphantasie wirkenden Videoclips vorgestellt. Sydney Sweeney ist 25, bekannt aus „The White Lotus“ und „Euphoria“, und sie räkelt sich wirklich enorm lasziv in einem knallroten Mercedes-Cabrio. Dann endlich „Angry“. Und was soll man meckern und die alte Früher-waren-sie-besser-Platte auflegen, nein: Dieser Song ist wirklich ganz große Klasse. „Angry“ ist ein Blues-Rock-Stampfer erster Güte, frisch, fetzig, unverbraucht. Jagger, vor allem er, Richards und Wood klingen höchstens halb so alt wie sie sind, „Angry“ bereichert den Katalog der Stones-Klassiker um einen weiteren Eintrag.

Worum es geht? Mick Jaggers Liebste will keinen Sex, und er fragt sich, was er ihr bloß getan haben könnte. Vor allem aber hat er Angst, sie könnte genug von ihm haben und ihn verlassen, obwohl er doch brav die blauen Pillen genommen habe. Ob diese Anspielung an das Potenzmittel Viagra nun Selbstironie oder ein Bekenntnis ist, bleibt vorerst unbeantwortet. Klar ist am Ende dieses denkwürdigen Nachmittags in Hackney indes eines: Über das Stehvermögen der Rolling Stones muss sich auch im siebten Jahrzehnt ihrer Existenz niemand Sorgen machen.