Essen. Katrin Zagrosek wird neue Intendantin des Klavier-Festivals Ruhr. Ein Gespräch über Generationswechsel, das Festival als Marke und „dicke Hosen“.
Es gab 60 Kandidaten: 30 sortierte die Stiftung des Klavier-Festivals Ruhr rasch aus, dann blieben sechs, dann drei, dann eine: Katrin Zagrosek, die neue Intendantin des weltgrößten Pianistentreffens. Lars von der Gönna traf die 47-Jährige zum Gespräch.
Berlin, Hamburg, Wien: Schöne Stationen. Aber wie kriegt eine antretende Intendantin das Gefühl für eine Region wie das Ruhrgebiet?
Zagrosek: Sicher nicht durch ein paar Fahrradtouren hier (lacht). „Zu den Menschen hin“, das wäre so das Motto. Ich geh’ nach Marxloh in die Schulen, mit denen wir zusammenarbeiten. Genauso treffe ich mein Team: Ich spreche sie alle – mit viel Zeit; ich halte viel vom Zuhören. Und natürlich – das Festival ist privatfinanziert – treffe ich Sponsorinnen und Sponsoren.
Letzteres ist nicht gerade eine künstlerische Arbeit...
Keine künstlerische, aber eine gestaltende. Wir sprechen da auch über Vorlieben und Inhalte. Was muss sein, was vielleicht nicht? Das ist durchaus kreativ. Aber ganz schlicht gehört auch dazu, dass man sich zeigt. Ich bin ja die Neue, und das nicht nach fünf Jahren Ohnesorg, sondern nach fast 30!
Ist Ihnen das Revier auch schon so ganz nebenbei untergekommen?
Klar, das Unverstellte, das „Geradeheraus“ der Menschen hab’ ich auch schon erlebt. Das gefällt mir. Ich find’s schwieriger, wenn was nicht ausgesprochen wird. Was ich aber vor allem an der Ruhr erlebe ist: Herzlichkeit, Offenheit, Zugewandtheit und echtes Interesse. Das Klavier-Festival steht super da!
Es erlebt einen echten Generationswechsel: Sie könnten die Tochter von Franz Xaver Ohnesorg sein. Und Sie sind um die 20 Jahre jünger als die durchschnittliche Klassik-Kundschaft. Was bedeutet das?
Die Altersgruppe, die Sie ansprechen, die wächst ja. Sie ist also das Gegenteil einer aussterbenden Art! Das Lamento meiner Branche über den „Silbersee“ im Konzert habe ich nie geteilt. Es gibt einen natürlichen Rhythmus des Lebens – und in der „Rush Hour“ ist eben weniger Platz für eine besinnliche Freizeitgestaltung, weil soviel Alarm auf allen Ebenen herrscht. Gleichwohl weiß ich ja, was Musik mit uns macht und wie sie jedem Menschen in jedem Alter und Milieu gut tun kann.
An die wollen Sie stärker ran?
Meine Bemühung werde ich darauf richten, auch andere Zielgruppen zu erreichen. Ich mach’ das nicht nur am Alter fest, auch an Milieus.
Sie haben allerdings Verständnis dafür, dass 40-jährige Menschen mit Kindern nach einem harten Arbeitstag nicht noch zweieinhalb Stunden Brahms hören wollen.
Klar, aber einen besonderen Ort aufzusuchen nach der Arbeit – und die gibt es im Revier mannigfaltig –, dort den Alltag hinter sich lassen, anderen Menschen begegnen, sich wohlfühlen, etwas geboten bekommen, was einen wirklich fesselt... Dass jemand sich aufrafft und am Ende sagt: „Ich bin froh, dass ich das nicht verpasst habe!“, das muss unsere Arbeit sein.
Sie übernehmen eine echte Marke. Heißt das „Alles so lassen“ oder „Ganz neue Bahnen einschlagen“?
Das Stichwort ist „Vielfalt“. Neben Bach und Beethoven eben auch Jazz, Neue Klassik und so weiter. Und es gibt auch eine Vielfalt bei den Empfängern. Die hat sich in den letzten 30 Jahren bewegt, die wollen wir nicht ignorieren. Manche möchten bloß für 70 Minuten ins Konzert, bei wenig Eintritt und freier Platzwahl. Manche möchten gern aufzeichnen, was sie erleben. Bislang ist das verboten, und auch das will ich schützen. Wenn ein Künstler in der großartigen Akustik des Musikforums Bochum im abgedunkelten Raum 1000 extrem konzentrierte Menschen mit Klassik in seinen Bann schlägt, ist das ein Vorgang, den ich gar nicht hoch genug schätzen kann. Es geht mir nicht ums Ranschmeißen, wo Klassik nur noch mit Getränkemitnahme funktioniert. Aber offen wollen wir sein.
Durch eine digitale Welt sinkt die Aufmerksamkeitsspanne, auch im Konzertsaal...
Das stimmt, obwohl gerade diese Situation als kostbarer Ort für digitales „Detox“ ideal ist. Seit Corona denke ich darüber nach, ob man die „vierte Wand“ zwischen Künstler und Publikum auch anders gestalten kann: Ob beide Seiten zum Beispiel nach einem Konzert ins Gespräch kommen könnten oder neue Formen der Begegnung stattfinden. Ich komme nicht mit fertigen Lösungen, aber wir besprechen das – auch mit den Künstlern.
Intendanz, das ist auch Macht. Hat Sie das angetrieben?
Ich habe keinen starken Machtinstinkt, Intendantin war nie das Ziel; das Ziel war das Gestalten von Musikprogrammen. Mit meinen Stationen ist alles gewachsen, das Personal, das Budget, ich konnte wirklich Schritt für Schritt lernen.
Auch Kulturmanagement ist über Jahrzehnte eine Männerdomäne gewesen. Das hat vielfach den Ton geprägt, die Art, zum Ziel zu kommen. Haben Sie als Frau in Entscheidungsrunden je gedacht, warum läuft das hier jetzt wieder auf „dicke Hose“ hinaus?“
Ist nicht einfach, das Thema. Dicke Hose, markige Sprüche: Die kann man ja als Frau nicht einfach übernehmen, dann ist man „zickig“ oder „aggressiv“. Umgekehrt wird es missverstanden, wenn man zuhört oder beim Führen die Betroffenen mitnimmt.
Was sind denn Ihre Mittel?
Klarheit. Ich setze auf klare Kommunikation und klare Regeln. Und ich möchte fair sein.
Anderseits hört man, Sie legten als Festivalleiterin Wert auf jedes Detail. Ist Delegieren schwer für Sie?
Am Ende halte ich den Kopf hin, wenn etwas nicht klappt. Deswegen gibt es sicher Felder, auf denen ich wirklich nachfasse, dass es so sitzt, wie ich mir das vorstelle.
Sie arbeiten viel. Gibt es eine Gegenwelt?
Die Natur! Rausgehen, durch den Wald, in den Baldeneysee springen. Natur ist eine Kraftquelle – wie die Zeit mit meiner Tochter oder guten Freunden. Ist nicht originell die Antwort, aber für mich ist es so.
Zur Person
Katrin Zagrosek stammt aus einer von Musik geprägten Familie. Ihr Vater Lothar (80) war als Dirigent unter anderem Chef der Staatsoper Stuttgart. Katrin Zagrosek ist studierte Musikwissenschaftlerin und spielt Klarinette. Ihre Stationen als Musikmanagerin waren unter anderem die Intendanz der Niedersächsischen Musiktage und die Geschäftsführung der Bachakademie Stuttgart. Ihr Amt beim Klavierfestival tritt sie am 1.1.2024 an.