Essen. Zufluchtsort der Moderne: Der Philosoph Alexander Grau präsentiert in seinem Buch „Vom Wald“ eine aufschlussreiche Kulturgeschichte des Waldes.
Warum fühlt sich Freiheit so falsch an? Hat der moderne Mensch durch die Technisierung und das immer breiter werdende Warenangebot nicht viel mehr Möglichkeiten als früher? Und doch besitzen unsere kapitalistische Wirtschaftsordnung und die Massenmedien eine einzigartige Nivellierungsmacht. „Das Versprechen der Moderne auf Emanzipation und Individualisierung wird umgehend konterkariert durch die Mittel, mit denen es erreicht werden soll“, schreibt der Philosoph Alexander Grau. „Ein oberflächlicher Individualismus und emanzipatorischer Lebensstil werden zur Ideologie der Angepassten. Alle sind einzigartig auf die immer gleiche Weise.“
Mit der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts werden Druck und Anpassungsdruck in der Gesellschaft immer stärker und bei manchem wächst das Bedürfnis, auszusteigen. Der Wald als Ort der Mythen und Märchen war immer schon attraktiv für diejenigen, die vor der Zivilisation fliehen wollten. Jetzt aber sind es nicht mehr nur Räuber und Kriminelle, die in ihm Zuflucht suchen, sondern auch ganz normale Bürger. Der Wald wird zum Sehnsuchtsort, zum Ort der Besinnung und Selbstfindung.
Buch: „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“
Hier setzt der 1968 in Bonn geborene Journalist und Philosoph Alexander Grau in seinem Essay „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ an. „Der Wald wird dem latent überforderten und von seinen anthropologischen Bedürfnissen abgeschnittenen Menschen der durchdigitalisierten Moderne zu einem Zufluchtsort, wo er Natürlichkeit, Authentizität und Gesundheit zu finden hofft.“ Von Konservativen oft als Hort nationaler Besinnung und deutscher Eigenart instrumentalisiert, als „Symbol einer sich gegen westlichen Individualismus und Liberalismus stellenden Kultur“, will Alexander Grau dieses Klischee nicht weiter fortschreiben. „Der Wald ist alles andere als ein Ort eines autoritären und freiheitsfeindlichen Denkens, im Gegenteil. Der Wald ist ein Ort der Freiheit.“
Von den Märchen der Brüder Grimm über Ludwig Tieck und Heinrich Heine bis zu Adalbert Stifter, Friedrich Nietzsche, Jean-Paul Sartre, Ernst Jünger und Martin Heidegger zeichnet Grau eine Traditionslinie nach. Er fügt Exkurse ein über Henry Thoreaus Walden-Projekt, den Monte Verità sowie die Wandervogelbewegung der Jahrhundertwende. Und ist davon überzeugt, dass der Wald mit seiner wilden Unordnung und seinem unabsehbaren Chaos dem Menschen Demut lehre. „Der Wald erinnert uns daran, dass es etwas gibt, was sich unserem Versuch, die Welt in ein Korsett aus Normen, Zielen und Sinnhaftigkeiten zu quetschen, verweigert.“
Die Hybris des Menschen ist der Feind des Waldes
Vom „Garant der Anarchie“ ist da zu lesen, der von dem Größenwahn erlöse, dass etwas Ewiges existiere. Der Wald ist eine „Freiheitsschule“. Sei es doch nicht der Zufall der Natur, der die Freiheit bedrohe, wie Grau schreibt, sondern die Hybris des Menschen, der Welt einen Sinn aufzuzwingen. Nicht zuletzt der Klimawandel führt vor Augen, dass Fortschritt nicht immer ein Fortschritt ist.
Wer nun einwenden mag, Grau verfolge lediglich die empiristische Traditionslinie und vernachlässige die rationalistische, der mag in gewissem Sinn recht haben. Aber wo verläuft die Trennlinie? Zielten die Dichter und Denker der Romantik neben ihrer sensualistischen Weltwahrnehmung nicht auch schon auf den Verstand hin und suchten beides in Einklang zu bringen? Vor allem die Frühromantiker?
Vom Gilgamesch-Epos bis in die Gegenwart
Alexander Grau legt mit seinem philosophischen Essay eine gut lesbare und sehr aufschlussreiche Kulturgeschichte des Waldes vor. Vom Gilgamesch-Epos bis in die Gegenwart zeigt er dessen Bedeutung in der Kultur und Literatur auf und erkennt ihn als Antagonist der Zivilisation. Wer dieses Buch gelesen hat, wird den Wald mit anderen Augen sehen.