Essen. Menschen, die einen Sinn in ihrem Leben gefunden haben, leben zufriedener. Sinnforscherin Dr. Tatjana Schnell erklärt, warum.

Kriege, Hass, Zwistigkeiten und Krise überall. Wie schafft man es, auch in schwierigen Zeiten die Hoffnung nicht zu verlieren? Eine Sinnforscherin gibt Ratschläge. „70 Prozent der Deutschen finden es wichtig, ein sinnvolles Leben zu führen. Nur acht Prozent meinen, sie brauchen keinen Sinn im Leben.“ Das sagt Dr. Tatjana Schnell (52), Psychologie-Professorin an der Universität Oslo in Norwegen. Die deutsche Wissenschaftlerin forscht seit mehr als zwei Jahrzehnten über den Sinn im Leben. Wohlgemerkt, nicht über den „Sinn des Lebens“ wie sie im Gespräch mit unserer Zeitung betont. Mit ihrem buchstäblich „sinnvollen“ Wissen gehört die Pionierin der empirischen Sinnforschung zu den herausragendsten Kapazitäten innerhalb dieser noch recht jungen Wissenschaft. Jetzt hat die Wahl-Norwegerin unter dem Titel „Sinn finden“ den weltweit aktuellen Stand der Sinnforschung in einem allgemeinverständlichen Buch zusammen gefasst.

Unterstützt wurde sie bei dieser gut einjährigen Schreibarbeit von dem „Zeit“-Journalisten Kilian Trotier (41), der in Interviews so bekannte Persönlichkeiten wie den ehemaligen Fußballmanager Reiner Calmund oder die Schauspielerin Sibel Kekilli nach deren persönlichen (und erfolgreichen) Sinn-Strategien befragt hat.

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Als seriöse Wissenschaftlerin wollte Tatjana Schnell ausdrücklich keinen allgemeinen Ratgeber zur Sinnsuche verfassen, sondern eben vielmehr verdeutlichen, auf welche objektiven Grundlagen sich die internationale Sinnforschung stützt und zu welchen Ergebnissen sie dabei bislang durchgedrungen ist. Allerdings liest sich das Buch, in dem übrigens mehr als 80 Psychologen, Soziologen, Philosophen und Theologen mit ihren Forschungsergebnissen von der Autorin berücksichtigt worden sind, dann aber doch wie ein möglicher Leitfaden, die jeweils persönlich-individuelle Sinn-Suche zu realisieren.

Dazu muss man sich aber erst einmal bewusst werden, was der Sinn im eigenen Leben überhaupt sein könnte – und was eben gerade nicht. So warnt Tatjana Schnell vehement davor, ein mögliches Sinn-Ziel mit bloßem Glück oder gar einer größtmöglichen Fülle an glücklichen Augenblicken zu verwechseln. Im Laufe ihrer Studien, denen viele Tausend Umfragen zugrunde liegen, hat sie nämlich erkannt: „Das Glück ist eine Sache des Moments, während es beim Sinn darum geht, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander zu verbinden. Beschäftige ich mich ernsthaft mit Dingen, die über mich selbst und mein Vergnügen hinausgehen, dann entsteht Sinn.“

Dr. Tatjana Schnell hat ein Buch über den Sinn des Lebens verfasst.
Dr. Tatjana Schnell hat ein Buch über den Sinn des Lebens verfasst. © HO | Ho

Doch auf welche Weise kann der einzelne Mensch überhaupt seine Sinnsuche zielorientiert angehen? Tatjana Schnell hat dafür den Begriff der „Sinnquellen“ eingeführt und diesen mit ihrem Forschungsteam nach Auswertungen unzähliger Fragebögen freiwilliger Probanden insgesamt in 26 Sinnquellen untergliedert. Die zehn wichtigsten darunter, die „bei hoher Ausprägung am stärksten mit Sinnerfüllung einhergehen“, sind: 1. Generativität (Dinge tun, die für andere positive Konsequenzen haben) 2. Religiosität (Hilfsbereitschaft und Liebe) 3. Bewusstes Erleben (So klar wie möglich das mitzubekommen, was ich mache) 4. Spiritualität (Gefühl dafür, dass Dinge nicht zufällig passieren) 5. Harmonie (Positiv aufeinander reagieren) 6. Fürsorge (Für die Familie und andere da sein) 7. Gemeinschaft (Jemand will meine Meinung wissen) 8. Entwicklung (Ohne Ziele ist das Leben langweilig) 9. Gesundheit 10. Soziales Engagement (Jeder braucht auch andere)

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Jeder Sinnsuchende wird in den benannten Sinnquellen seine ganz eigenen Prioritäten finden, um in einer weiteren Stufe die so genannten „Sinn-Elemente“ auszuloten. Die Psychologin unterscheidet vier solcher Elemente: Orientierung (Habe ich einen inneren Kompass?), Bedeutung (Ist es anderen wichtig, dass ich da bin?), Zugehörigkeit (Habe ich einen Platz auf dieser Welt, ein Zuhause?) und Kohärenz (Darf ich so sein, wie ich bin?). Findet der Sinnsuchende hier Antworten, kann er diese bewusst an und in seinem Lebensalltag überprüfen und gegebenenfalls durch aktives Handeln bewusst stärken.

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Aber Vorsicht: Der gefundene Sinn im Leben muss nicht unbedingt ein guter, ein positiver sein! Es ist leicht nachvollziehbar, dass sich etwa Autokraten oder Diktatoren in ihrem Lebenssinn sehr zufrieden und ausgefüllt fühlen. Tatjana Schnell, die neben Psychologie auch Philosophie und Theologie studiert hat, führt hier einen gedanklichen Schutzschalter auf der Sinnsuche ein, den sie „Plus zum Sinn“ nennt. Und dabei geht es um eine ethische Perspektive.

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Die erlangt der Sinnsucher, indem er sein Denken und Handeln immer wieder selbstkritisch beurteilt. Tatjana Schnell: „Wenn das Hinterfragen zum Sinn gehört, wird der Sinn nicht fanatisch. Was Diktatoren, Rassisten, Frauenhasser und Verschwörungsgläubige gemein haben, ist, dass sie nicht offen sind für Zweifel, für Widersprüche und andere Sichtweisen. Sie propagieren eine Wahrheit, die für sie absolut ist. Lasse ich mich hingegen darauf ein, meinen Sinn auf die Probe zu stellen, heißt das nicht, dass ich ihn mindere. Im Gegenteil. Ich prüfe ihn von allen Seiten. Dabei bilde ich eine ethische Haltung heraus.“

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Für die Sinn-Forscherin ist es durch ihre langjährigen Untersuchungen hinlänglich belegt, dass Menschen, die einen Sinn in ihrem Leben gefunden haben, dadurch nicht nur grundsätzlich gesünder, ausgeglichener und zufriedener sind. Sie sind, dank ihres Nachdenkens über sich selbst und ihr daraus resultierendes verantwortliches Handeln, zugleich auch wichtige, um nicht zu sagen wichtigste Träger einer demokratischen Gesellschaft.

Wem die psychologischen Raster von „Sinnquellen“ und „Sinn-Elementen“ nun aber allzu abstrakt erscheinen, dem gibt Tatjana Schnell ein paar sehr konkrete Fragen als Hilfestellungen vor:

Was ist die schönste, was die wertvollste Erfahrung, meines Lebens, an die ich mich erinnern kann? - Wie würde ich einen idealen Tag beschreiben?

Welche Heldinnen oder Vorbilder habe ich? Was fasziniert mich an ihnen?

Was macht für mich einen guten Menschen aus? - Wenn es nach mir ginge, wie sollte mein Kind oder mein Enkel oder ein mir nahe stehendes Kind einmal leben?

Wenn ich am Ende meines Lebens zurückblicke, was für ein Mensch will ich gewesen sein?

Zeit-Journalist Kilan Trotier hat an dem Buch über die Sinnhaftigkeit des Lebens mitgewirkt.
Zeit-Journalist Kilan Trotier hat an dem Buch über die Sinnhaftigkeit des Lebens mitgewirkt. © HO | Ho

Anhand eines solchen Fragenkatalogs lassen sich fast automatisch Lebenseinstellungen ableiten, die sich wiederum als hilfreiche Gedanken-Leitplanken auf dem Erkenntnisweg zum Lebenssinn erweisen können.

Möglich ist es natürlich auch, dass der einmal gefundene Sinn nicht unbedingt ein Leben lang gleich bleiben muss. Vielmehr zeigen entsprechende Untersuchungen, dass es hier im Laufe der Jahre und Jahrzehnte von der Jugend bis ins hohe Alter durchaus zu deutlichen Veränderungen kommt. Junge Menschen sehen die Welt mit ganz anderen Augen als alte, ohne dass hier Kategorien von falsch oder richtig angebracht sind. Der individuelle Lebenssinn muss sich der jeweiligen Lebenssituation anpassen. Fest steht immerhin, dass sich die Zahl der Sinnsuchenden in den vergangenen Jahren stetig vergrößert hat. Es gibt offensichtlich eine starke Sehnsucht nach einem sinnerfüllten Leben, die deutlich und nachhaltig über das hinausgeht, was oberflächlich so häufig als bloße „Spaßgesellschaft“ apostrophiert wird.

Als sehr persönliche Quintessenz ihrer jahrzehntelangen Sinn-Forschung formuliert Tatjana Schnell abschließend: „Wenn ich mich einlasse, ins Handeln komme, etwas tue, weil ich es für wichtig und richtig erachte, dann erfahre ich Sinn, früher oder später. Dann schließe ich Frieden mit diesem Leben –und quasi nebenbei, ohne es anzustreben – kommt es zu Momenten der Freude, des Glücks und der Dankbarkeit.“ Oder, um es mit einem Wort von Hilde Domin, der Lieblingslyrikerin von Prof. Schnell, auf den poetischen Punkt zu bringen: „Ich setzte den Fuß in die Luft – und sie trug.“

Tajana Schnell / Kilian Trotier: Sinn finden. Warum es gut ist, das Leben zu hinterfragen. Ullstein Verlag, 303 S., 21,99 Euro.- Weiterführende Informationen zum Thema Sinnfindung gibt es zusätzlich auf der von Prof. Tatjana Schnell eingerichteten Internet-Plattform www.sinnmacher.eu

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