Bergkamen/Lünen. Heiko Kautz reiste zu den Sehnsuchtsorten seiner verstorbenen Tochter durch Europa. Welcher Moment ihn besonders viel Kraft kostete.
Aufgeben war nie eine Option. Aber als er die Alpen geschafft hatte mit seinem schwer bepackten Rad, da wusste Heiko Kautz: „Jetzt packe ich auch die Pyrenäen.“ Nach 114 Tagen und knapp 8000 Kilometern durch Europa ist der 52-Jährige aus Bergkamen wieder zu Hause, gestählt und braun gebrannt. Ein Urlaub aber war das nicht: Kautz radelte zu den Sehnsuchtsorten seiner Tochter. Lena, erst 22, war im Dezember an einem Sarkom, einer seltenen Krebsart, gestorben. In Gedanken fuhr sie mit, aber die Trauer tat das auch.
Und dann war es wieder die 22. Diese Lebenszahl von Lena, die sie sich einst selbst ausgesucht hatte für ihr Fußballtrikot, ausgeliehen von ihrem Lieblingsspieler Christian Pulisic, damals bei Borussia Dortmund. 22 war das Alter, in dem sie starb. Tag und Jahr ihres Fluges zum Studium im Ausland. Die Zimmernummer auf der Palliativstation im Krankenhaus. Ihre Punktzahl im Tippspiel, das sie an ihrem Todestag gewann. Die 22 stand auch auf ihrem Autokennzeichen, das der Vater für seine Reise an sein Fahrrad schraubte. Und als Tattoo auf den Armen der Freunde, die ihn verabschiedeten zu Ostern.
Lenas Wunschorte: Wien, Prag, Mailand, Madrid
Da stand Heiko Kautz also im Stadion Bernabéu, Heimat von Real Madrid. Es war ein guter Tag, „der schönste“ von allen, sagt der 52-Jährige: Überraschend war sein Sohn in die spanische Hauptstadt gekommen. Endlich war er nicht mehr allein auf seiner Tour, die ihn in all‘ die Hauptstädte bringen sollte, die Lena auf eine „Bucket-Liste“ geschrieben hatte. Orte allesamt, die sie noch hatte sehen wollen, die Mutter hatte den Zettel in ihrem Zimmer gefunden. Wien, Prag, Mailand lagen schon hinter Kautz, nun beschlossen Vater und Sohn, sich diesen Fußball-Tempel anzusehen, Lena hätte das gefallen. Und dann hingen dort Trikots der Frauenmannschaft an der Wand und in der Mitte ein einziges in Gold, das einzige mit einer Zahl: 22. „Und es lachte uns an.“
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Nach Tod von Lena (22): Vater Heiko reist ihren Träumen nach
Heiko Kautz sagt über sich selbst, er sei „kein spiritueller Typ“. Aber gibt es solche Zufälle? Die 22 hat ihn schließlich begleitet auf seiner Reise, sie wehte auf Lenas Trikot hinter ihm her, an allen guten und schlechten Tagen. Höhen und Tiefen, die hatte der trauernde Vater vorher schon, selten hielten sie sich ganze Tage, eher waren es Phasen. „Das ist immer noch so“, auch nach seiner Rückkehr, „es geht rauf und runter.“ Die vier Monate seien „traurig-schön“ gewesen. Und sie haben wenig verändert in seiner Gefühlswelt: „Ein Auge lacht, ein Auge weint.“
Sarkom: Vater versucht, die Krankheit bekannter zu machen
Aber seine Trauer zu bewältigen, war auch nicht das erste Ziel. Zuallererst hat der Vater die Reise für Lena gemacht, um ihr ihre Sehnsuchtsorte zu zeigen. Und er wollte ihre Krankheit bekannter machen: Er schickte Fotos und Videos mit ihrem Shirt von überallher, seine Beiträge auf Instagram sahen manchmal fast 300.000 Leute. Zu viele gebe es immer noch, sagt er, die das Sarkom nicht kennen, zu viele Ärzte, die es nicht oder zu spät diagnostizieren. „Die Aufmerksamkeit“, freut sich Kautz, „ist so groß wie nie.“
Das Einzige, was indes wirklich messbar ist, sei das Geld, das er sammelte für die Deutsche Sarkom-Stiftung. Ein mittlerer fünfstelliger Betrag, weit entfernt noch von den 100.000 Euro, von denen er träumte. Dafür hat Heiko Kautz Geschichten mitgebracht, viele traurige, aber auch solche der Hoffnung. Die Idee hatte er erst unterwegs, er wollte seinen „Followern“ etwas zurückgeben. Das Reel, in dem er Andere auf seine Radtour einlud, hatte die meisten Aufrufe von allen: Mehr als 100 Namen schrieb er neben „L. Kautz“ auf das Trikot, von Menschen, die selbst gegen den Krebs kämpfen oder einen Patienten begleitet haben. Das Hemd hängt nun zu Hause an der Wand, neben einem Wimpel, den Lenas Mutter ihm mitgab.
Aber Lena fehlt. Das Rad hat gehalten, das Knie auch, Heiko Kautz hat ordentlich abgenommen, und alles in seinem Körper hat ihm irgendwann einmal wehgetan. Der Schmerz in der Seele ist noch da. Einen „absoluten Tiefpunkt“, erzählt Kautz, habe er in Italien gehabt: Im Mailänder Dom entzündete er eine Kerze vor einem Foto seiner Tochter, es war ein Mannschaftsbild vom Fußballclub. „Da habe ich so schrecklich weinen müssen. Das war der traurigste Tag.“
Allein in Europas Hauptstädten: „Ich hatte es so versprochen“
Und nach dem glücklichen Moment im spanischen Stadion sei es gewesen, „als hätte mir jemand den Stecker gezogen“. Sohn Ben reiste ab, eigentlich war das Ziel der Reise erreicht, Madrid war das letzte auf Lenas Liste. Trotzdem radelte Kautz noch weiter gen Süden, besuchte Lissabon und Porto, auch diese schönen Städte wollte er seine Tochter noch sehen lassen durch seine Augen. Aber wieder war es so, wie es in allen anderen Orten gewesen war: Der Vater besuchte die Städte allein, lief allein durch die Straßen, schaute mit traurigem Gefühl auf all‘ die fröhlichen Gruppen, Familien, Paare. „Das war nicht einfach, aber ich hatte es so versprochen.“
Er muss es den Menschen derzeit immer wieder sagen: Es war keine fröhliche Reise, „es war kein Urlaub, es war nichts Schönes! Nein, so war es nicht“. Ob es ihm geholfen hat, wie er zu Ostern noch hoffte, bei der Verarbeitung seiner Trauer, beim Abschiednehmen von seiner Tochter, er weiß es noch nicht. Es kann immer noch nur schwer ertragen, dass das Leben da draußen „einfach weitergeht“. Aber diese Reise, die 114 Tage auf dem Rad und so viele Nächte unter freiem Himmel: „Ich hatte zumindest nie das Gefühl, dass es falsch war. Das muss erst einmal reichen.“
Seit seiner Rückkehr – Aufbruch am 22. Juni, Ankunft am 22. Juli – geht Heiko Kautz wieder jeden Tag auf seinen Balkon, um mit seinem Kind zu „quatschen“. „Das haben wir doch gut gemacht“, sagt er dann zu sich und zu Lena. Er sagt immer „wir“. Es war ja seine Idee, dass er radelt, wohin seine Tochter wollte, ihr Bild mit wehendem Haar vor Augen. Aber klar: „Ich hätte lieber gehabt, sie wäre für mich gefahren.“
>>INFO: SARKOM-STIFTUNG, FERNSEH-AUFTRITT UND SPENDENNUMMER
Das Sarkom ist eine bösartige Geschwulst, die vor allem in den Knochen oder Weichteilen des Körpers entsteht und meist frühzeitig in die Blutgefäße metastasiert. Sarkome gehören zu den malignen Tumorerkrankungen (Krebs), sind aber viel seltener als Karzinome – sie machen nur etwa ein Prozent der Krebserkrankungen beim Menschen aus. Bei Kindern tritt ein Sarkom häufiger auf: bis zu elf Prozent.
Als seltene Krebserkrankung, klagt die Deutsche Sarkom-Stiftung, „haben Sarkome oft eine schlechtere Prognose im Vergleich zu häufigeren Krebsarten“. Deshalb setzt sich die Stiftung nicht nur für Patienten und ihre Angehörigen, sondern auch für weitere Forschung von Sarkomen, für bessere Versorgung und Behandlung der Betroffenen ein.
Lenas Tour kommt auch ins Fernsehen: Der WDR hat die Reise von Heiko Kautz teilweise begleitet. Ergebnis ist die Dokumentation „Die Bucket List meiner verstorbenen Tochter“ in der Reihe „Echtes Leben“, Mittwoch, 7. August, 23.35, ARD, (Wiederholung am Sonntag, 11. August, 5 Uhr). Am Mittwochnachmittag ist Heiko Kautz zudem zu Gast in der WDR-Sendung „Hier und Heute“ (ab 16.15 Uhr).
Hier können Sie spenden:
Per Paypal: PayPal.Me/lenatour
Per Überweisung: Deutsche Sarkom-Stiftung
Volksbank Mittelhessen
IBAN: DE51 5139 0000 0073 1063 11
BIC: VBMHDE5F
Verwendungszweck: Lenas Tour