Bochum/Essen. Die Außenministerin will mit Bürgern sprechen – vor allem mit denen in NRW. Doch auch hierhin verfolgen sie die großen Themen.
„Keine Macht für Niemand!“, steht auf dem Shirt, das die angehende Tischlerin Y. Krenzin für diesen Moment angezogen hat. Außenministerin Annalena Baerbock neigt den Kopf, liest und geht nicht weiter auf die Botschaft ein, die an eine womöglich vergessene Wurzel der grünen Partei erinnern soll. Sie ist zu Gast bei der Kreishandwerkerschaft Ruhr in Bochum und diskutiert im Anschluss auf Zeche Zollverein vor Publikum. Krenzin erklärt ihr nun, wie man einen Nachttisch baut. Ein Dutzend Kameras filmt und fotografiert. Ist dies nur das Warmlaufen für das folgende Gespräch über Fachkräftemangel – oder sind die Bilder aus der Werkstatt der eigentliche Zweck dieses Auflaufs?
Annalena Baerbock ist auf „Deutschlandreise“, und die gerät in diesem Jahr mit fünf von acht Terminen zur NRW-Tournee. Am Montag ist die Außenministerin in Bochum und Essen, am Dienstag wird sie im Rheinland unterwegs sein, in Leverkusen, Köln und Troisdorf. Zum Abschluss steht das thüringische Jena auf dem Plan.
Umgeben von Konflikten
Das Format nutzen viele Politiker im Sommerloch. Dabei sind diese Ferienwochen außenpolitisch alles andere als ruhig: Nach dem Tod von zwölf Kindern bei einem Raketenangriff auf Israel könnte der Konflikt im Nahen Osten eskalieren. Putin droht erneut mit atomarer Aufrüstung, weil die USA ab 2026 Langstreckenwaffen in Deutschland stationieren wollen. Und dann war da noch das gescheiterte Attentat auf Donald Trump und der Verzicht von US-Präsident Joe Biden auf eine neue Kandidatur.
Den Handwerkern geht es um eine schlankere Visaverfahren für Fachkräfte. Zum Beispiel für die fünf Ghanaer, die im Frühjahr im Ruhrgebiet Praktika gemacht haben, und die allesamt eine Ausbildung angeboten bekommen haben. Sie mussten im Mai wieder zurückfahren, dabei wäre es praktischer gewesen, wenn sie gleich geblieben wären. Könnte man das nicht digitaler, effizienter, aus einer Hand gestalten? „Daran wird gearbeitet“, sagt Baerbock. Die Chancenkarte gibt es bereits seit Juni. Mit dieser können mögliche Fachkräfte zur Jobsuche auf ein Jahr einreisen. Die Verfahren in einigen „Schlüsselbotschaften“ seien schon digitalisiert. Als Team Deutschland müsse man noch stärker zusammenarbeiten.Sie bringt Hoffnung mit. Und: „Politik hat zugehört“, wird Kreishandwerksmeister Michael Mauer abschließend sagen.
Die Auszubildenden und die Umschülerin dagegen lassen ihre Chance auf politische Fragen verstreichen, sie haben den Auftrag ihren Beruf vorzustellen. „Dann gibt’s noch den Winkelschleifer“, erklärt der Auszubildende Lucas Bukowski. – „Im Effekt ist es ein Runddübel, nur dass man ihn nicht drehen kann“, sagt Krenzin. Und Annalena Baerbock setzt souverän ihre Schraube in den Nachttisch.
Nicht immer gute Bedingungen
Doch sie nimmt dankbar das Gespräch an, als Kreishandwerkmeister Mauer inhaltlich wird: 236.000 Handwerker fehlen in NRW. Die Politik habe in der EU nicht immer für gute Rahmenbedingungen gesorgt. Nicht nur der fehlende Nachwuchs, auch die Abbrecherquote mache Sorgen. Über alle Handwerksberufe nur sieben Prozent, bei den Tischlern aber rund die Hälfte. Dann geht es schon weiter mit der „mitteldichten Faserplatte“.
Man könnte das für erholsam halten. Doch auch in Bochum holen Baerbock die Großthemen ein. Die Hauptstadtpresse nutzt die Gelegenheit, und so steht Annalena Baerbock im Foyer der Kreishandwerkerschaft und verurteilt den Angriff auf Israel. Sie erklärt, dass sie auch mit den iranischen Amtskollegen geredet habe, diese Dinge würden sie begleiten, wohin auch immer sie geht. Sie fordert die Deutschen im Libanon zur Ausreise auf. Es ist wichtig, aber – diesmal – nicht weltbewegend.
Gegen den Brain Drain
Die Fachkräfte folgen Annalena Baerbock nach Essen, zumindest als Thema. Mehrfach nimmt sie auf dem Podium in Halle 12 des Weltkulturerbes Bezug auf das Bochumer Modellprojekt. Und aus dem Publikum wird die Ministerin auch gefragt: Locken wir nicht Fachkräfte weg, die in den Herkunftsländern für Fortschritt sorgen könnten? Nun, die Handwerker aus Ghana sind ja noch keine. Sie werden erst hier ausgebildet. Aber man müsse immer auf die Situation im Land schauen. In Brasilien zum Beispiel fehlen Ärztinnen und Ärzte, hier gibt es eine übereinkunft nicht abzuwerben. Beim Pflegepersonal allerdings, erklärt Baerbock, ergebe sich eine Win-Win-Situation.
Baerbock wirbt für die Chancenkarte, für „Stolz auf das Fachkräfteeinwanderungsgesetz“, für eine Änderung der Perspektive. Sie sagt: „Wenn ich in der Welt unterwegs bin, rufen nicht alle Juhu.“ Die meisten Fachkräfte würden schon wegen der Sprache versuchen, in ein englischsprachiges Land zu kommen. Warum dauerte es so lange mit den Bochumer Visa, obwohl die Betriebe bürgen wollten? Als sie vor zweieinhalb Jahren ins Amt kam, habe sie „ein Abwehrsystem in den Botschaften“ vorgefunden, sagt Baerbock. Diese seien „darauf getrimmt worden: im Zweifel gegen den Antragsteller. Das stellt man nicht von heute auf morgen um.“
„Keine angstgetriebene Politik“
Ali Can, Leiter des Essener Vielrespektzentrums, sagt als einer von vier „Themenpaten“: „Ich glaube, Vielfalt ist die neue Kohle“, aber wie bewirbt man sie?“ Als das neue made in Germany vielleicht. „Wir sollten uns trauen.“ Baerbock erwidert: Abschiebung für Straftäter und Einreise von Fachkräften dürften sich nicht ausschließen. „Wir dürfen uns die erreichten Erfolge in der zugespitzten Debatte nicht kaputt machen lassen.“ Dieser Appell verbindet ihre Antworten zu den sehr unterschiedlichen Fragen an diesem von der Essener Stiftung Mercator organisierten Abend: Nicht abschotten. „Keine angstgetriebene Politik machen.“
Der Populismus durchzieht die Diskussion. Und Baerbock sucht, Hoffnung zu verbreiten. Wie sie sich gegen die AfD stellen wolle, die in die Regierungsverantwortung strebt, will einer wissen. „Ich lasse mir nicht einreden, dass dies die Mehrheit ist: Selbst 20 oder 30 Prozent sind nicht die Mehrheit.“ Bessere Regeln gegen Fake News könne man sich aus dem Ausland abschauen, sagt Baerbock. Und es blitzt eine persönliche Perspektive durch: „Als Frau kriegt man immer noch mal eine Schippe Hass und Hetze oben drauf.“