Duisburg. Günter Wallraff deckte in den 80er-Jahren einen Leiharbeiter-Skandal auf. Der Autor arbeitete undercover unter dramatischen Bedingungen im Duisburg Stahl-Unternehmen
Mit seiner Sozialreportage „Ganz unten“ gelang Enthüllungsautor Günter Wallraff ein Welterfolg. Das Buch wurde in 30 Sprachen übersetzt und vier Millionen Mal verkauft. Zwei Jahre lang schlüpfte Wallraff für die Recherche in die Rolle des Türken Ali Levent Sinirlioglu. Er verdingte sich mit dieser falschen Identität unter anderem als Hilfskraft bei McDonalds, als Illegaler auf einer Großbaustelle und als Arbeiter in einer Kolonne von Leiharbeitern bei Thyssen Stahl in Duisburg, das heute unter thyssenkrupp Steel firmiert. Dort arbeitete er unter unmenschlichen und gefährlichen Bedingungen. Die Verantwortlichen des Konzerns wälzten zunächst alle Verantwortung dafür auf die Verleihfirmen ab.
Journalistischer Coup
Im Oktober 1985 erfuhr die Redaktion der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung in Duisburg-Hamborn von Wallraffs verdecktem Einsatz. Der Journalist Benedikt Piecha hatte Wind von dem Projekt bekommen und bereitete eine große Story vor. Der journalistische Coup war fast perfekt, als Wallraff anrief und flehentlich bat, mit der Veröffentlichung noch ein paar Tage zu warten. Der Grund: Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ würde am folgenden Montag mit einer Exklusiv-Geschichte erscheinen (Heft 43/1985). Auch der Verlag Kiepenheuer Witsch ließ die Telefondrähte glühen. Beide befürchteten, dass Thyssen in letzter Minute einstweilige Verfügungen beantragen und „Ganz unten“ auf diese Weise stoppen könnte. Zumal wenig später die Frankfurter Buchmesse eröffnet werden sollte.
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Wegen der ungeheuren Brisanz des Themas war die WAZ-Chefredaktion unter Siegfried Maruhn eingeschaltet worden. Denn einerseits wollte die größte Zeitung des Ruhrgebiets sich nicht um den journalistischen Erfolg bringen lassen. Andererseits war allen Beteiligten daran gelegen, dass das Buch von Wallraff erscheint. So wurde ausnahmsweise ein Deal vereinbart: Die WAZ hielt still. Die Regionalzeitung und das Hamburger Magazin kamen zeitgleich mit der Story heraus. Im Gegenzug stattete der Enthüllungsautor der Lokalredaktion in Duisburg-Hamborn sogar einen Besuch ab.
Buch wurde zum Mega-Bestseller
Das Buch wurde in den ersten zwei Wochen über 640.000-mal verkauft. Auch die Zeitungsberichte schlugen wie eine Bombe ein. Die lebensgefährliche Situationen, mit denen Leiharbeiter wie Ali Levent klarkommen mussten, fehlender Arbeitsschutz, viel zu lange Schichten und Unterbezahlung erregten die Gemüter. Nicht zuletzt machte der geschilderte Ausländerhass viele Menschen betroffen.
All dies sei Sache der Verleihfirma, man sei deshalb nicht zuständig, ließ der am Pranger stehende Thyssen-Konzern zunächst verlauten und schickte das damals unerfahrenste Vorstandsmitglied vor die Presse und in die Fernsehstudios. Dr. Ekkehard Schulz, der spätere Vorstandschef, ein schneidiger, dabei sehr integrer Manager, war in dieser Situation überfordert. Ein Kommunikations-Desaster.
Der Druck durch die öffentliche Meinung und von Seiten des Betriebsrats nahm nun zu. Relativ schnell ruderte Thyssen deshalb zurück. Schon bald galten die Sicherheitsmaßnahmen auch für Leiharbeiter, von denen viele eingestellt wurden. Von einigen, windigen Verleihfirmen trennte sich der Konzern.
Und Günter Wallraff, der als Ali Levent Gesundheit und Leben riskiert hatte, spendete einen Teil der Einnahmen seines Buches für ein von ihm initiiertes Wohnprojekt in Duisburg-Neudorf. Bis heute leben dort Menschen aus vielen Nationen zusammen.
Aus: Ruhrgebiet für Kenner. Wahres, Rares, Erstaunliches von Rolf Kiesendahl und Sylvia Lukassen. Ellert Richter Verlag Hamburg, 12 Euro.
*Der Autor dieses Textes leitete damals die WAZ Lokalredaktion Duisburg-Hamborn
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