Essen. An Trauernde werden oft hohe Erwartungen gestellt: Wie man nach dem Verlust eines geliebten Menschen alles richtig macht. Oder warum es beim Tod kein „Falsch“ gibt.
Wer seine Eltern zu Grabe trägt oder seinen Partner verloren hat, versinkt in tiefer Trauer. Er trägt Schwarz, weint und findet lange keinen Trost. Nach ein paar Monaten sollte er langsam wieder ins Leben finden und nach Vollendung des Trauerjahrs den Tod dann auch hinter sich lassen und wieder nach vorn schauen.
So ließe sich wohl das Idealbild von „angemessener Trauer“ zeichnen, das gesellschaftlich tief verankert ist und, wenn wir ehrlich sind, auch tief in uns selbst. Erleichterung über den Tod des Ehemannes zu empfinden; befreit zu sein, dass es die Mutter nicht mehr gibt, nur wenige Tage nach dem Begräbnis wieder feiern zu gehen? Das empfinden wir als veritablen Affront – gegen gesellschaftliche Konventionen und gegen verinnerlichte Moralvorstellungen. Zeit, diesen Stereotypen zu Verlust und Trauer auf den Zahn zu fühlen und Betroffenen und Menschen, die mit Trauernden arbeiten, die zugespitzte Frage zu stellen: „Darf ich erleichtert sein, wenn meine Mutter stirbt?“
Clarissa Dumpert aus Herrsching am Ammersee arbeitet als Trauerrednerin. Sie stößt sich an der Formulierung „darf ich“. „Das impliziert ja, dass es da jemanden gibt, den ich um Erlaubnis bitten müsste. Aber wer sollte das sein? Da gibt es niemanden, der das erlauben oder verbieten kann. Außer mir selbst.“ Außerdem, so betont die 43-Jährige, könnten wir ganz besonders in der Trauer „Gefühle nicht machen“. „Ich kann mich nicht zwingen zu weinen oder umgekehrt, wenn ich tieftraurig bin, sagen, nee, jetzt bin ich wieder fröhlich, jetzt funktioniere ich wieder‘. Die Trauer hat die Ausprägung, die sie gerade hat. Ich bin eine große Verfechterin davon, dass da sein zu lassen, was da ist.“
Die eigenen Gefühle akzeptieren
Antje Randow-Ruddies ist systemische Familientherapeutin in Hamburg und erlebt häufig Menschen, denen genau dies schwerfällt: die eigene Trauer so zu akzeptieren und auszuleben, wie sie sich zeigt. Besonders dann, wenn die individuelle Ausformung der Trauer nicht ins Korsett gesellschaftlicher Akzeptanz passt. Dabei sei etwa das Trauerjahr, in dem der Hinterbliebene Schwarz tragen solle, sich nicht amüsieren und schon gar keinen neuen Partner haben dürfe, „aus therapeutischer Sicht totaler Quatsch“.
Tatsächlich hatte die Einführung eines Trauerjahrs pragmatische Gründe. So war schon im Römischen Recht das „annus luctus“ verankert, während dem die Angehörigen unter Androhung von Strafe Trauerkleidung zu tragen und Festen fernzubleiben hatten. Während Witwer sofort wieder heiraten durften, war Witwen dies verwehrt. So sollten Zweifel an der Vaterschaft von nach dem Tod des Gatten geborenen Kindern vermieden werden. Auch das deutsche Gesetz schrieb zu Anfang des 20. Jahrhunderts noch eine solche einjährige Wartezeit für Witwen vor.
Obwohl die rechtlichen Regelungen des Trauerjahrs längst aufgehoben sind, gelte der unausgesprochene gesellschaftliche Kodex nach wie vor, dass Trauernde einmal alle Jahreszeiten, Geburtstage und Feste allein durchleben müssten und es dann wieder leichter werde, sagt Randow-Ruddies. „Dieser Mythos über die angemessene Dauer von Trauerbewältigung stimmt in keiner Weise mit der Realität überein. Trauer ist ein Gefühl, das wir immer in uns tragen, eine große Emotion, die immer da ist. Wenn ein geliebter Mensch stirbt, bekommt diese Emotion eine Hauptrolle. Irgendwann geht sie zur Seite, doch sie hört nicht auf.“ So könne es sein, dass man zwei Jahre nach dem Tod plötzlich wieder in einer Phase tiefer Trauer stecke oder schon nach drei Monaten auf Partnersuche sei. „Beides ist völlig in Ordnung“, betont die Therapeutin.
Über sechs Jahrzehnte währte die glückliche Ehe zwischen Ortrud Malmendier und ihrem Mann Norbert, der am Ende an Demenz und an Parkinson erkrankt ist. Im Mai 2023 verstarb er. Sie sagt: „Die Trauer bleibt, denn die Lücke bleibt ja auch.“ Doch berichtet die Bochumerin auch von dem tiefen Gefühl des Glücks, das sie empfand, als ihr bewusst wurde, dass ihr Mann nicht mehr aufwachen würde. „Ich habe ihm gesagt, ‚ich bin traurig, aber ich halte dich nicht fest.‘ Nach zwei Tagen hatte er es geschafft.“ Sie sei sehr froh und erleichtert für ihn gewesen, obwohl ihr bewusst gewesen sei, der Schmerz über den Verlust, der würde kommen.
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Clarissa Dumpert erklärt diese Gleichzeitigkeit der Gefühle: „Es gibt keinen exklusiven Zustand der Trauer. Wir sind nicht nur traurig oder nur befreit. Die eigene Traurigkeit und die Erleichterung für den anderen können koexistieren, gerade wenn man den Sterbenden lange intensiv pflegend betreut hat, was emotional, psychisch und physisch sehr herausfordernd ist.“ In diesen Fällen mische sich in die Trauer um den geliebten Menschen nicht selten eine Trauer um sich selbst, ergänzt Randow-Ruddies: „Oft hat die Pflege einen solchen Raum eingenommen, dass ihr Ende ein großes Loch ins Leben der Angehörigen reißt und sie erst wieder neuen Lebenssinn finden müssen.“
Trauer bewegt sich in Wellen
In der Regel bewege sich Trauer in Wellen, wie die Trauerrednerin beobachtet: „Da kann in einem Moment die Welle der Erleichterung da sein, gefolgt von einer des tiefen Schmerzes. Dann empfinden wir vielleicht große Dankbarkeit, den Menschen in seiner Einzigartigkeit in unserem Leben gehabt zu haben, und plötzlich baut sich eine Monsterwelle auf voll Zweifel und Ohnmacht, wie man überhaupt ohne den anderen zurechtkommen soll. Und am nächsten Tag hat sich, wie auch auf dem Ozean, der Sturm wieder gelegt und wir sind wieder zuversichtlich, wenden uns wieder dem Leben zu.“
Die Lust auf Leben, die hat Ortrud Malmendier nie verlassen, nicht während der langen Jahre der Pflege, in der zwischen ihnen eine Verbundenheit nie gekannter Intensität entstanden sei, nicht nach dem Tod ihres Mannes. „Ich habe mir sehr schnell die Frage gestellt, will ich eine trauernde Witwe sein oder eine Lebende?“ Zehn Tage nach Norberts Tod ging sie wieder tanzen. Israelisch, griechisch, Improtanz. „Ich tanze meine Trauer“, sagt die 83-Jährige, die sich zum Geburtstag ihres Mannes bei ihrer Schwester eingeladen und Weihnachten mit ihrer Enkelin in Sri Lanka verbracht hat. „Die Trauer ist weiter da und ich bin äußerlich natürlich allein, aber ich fühle, dass mich mein Mann im Herzen begleitet. Und für die lange Zeit, die wir hatten, bin ich sehr dankbar“, erklärt Malmendier.
Ob sie das Leben leben und lieben darf? Ob sie froh sein darf, nach langer Zeit der Einschränkung wieder selbstbestimmt und spontan über ihren Tagesablauf zu entscheiden? Ob sie eine platonische Brieffreundschaft führen darf? Danach hat die reiselustige Kultur- und Literaturliebhaberin nie jemanden gefragt. Nicht die Kinder, niemanden in ihrer Angehörigengruppe bei der Bochumer Alzheimer Gesellschaft und auch nicht ihren verstorbenen Mann. „Ich wüsste, er würde ja sagen“, ist Malmendier überzeugt. Doch diese Absolution hat sie gar nicht gebraucht, sie hat sich ihre ureigene Form der Trauer selbst erlaubt und ist damit freier als so mancher Kunde, der bei Therapeutin Antje Randow-Ruddies Hilfe sucht.
Häufig sind dies Menschen, die den etablierten Idealvorstellungen eines Trauernden nicht entsprechen und äußerlich anecken oder solche, die über ihre eigenen Empfindungen erschrecken. „Die Verunsicherung ist besonders groß, wenn erwachsene Kinder nach dem Tod von Mutter oder Vater Erleichterung spüren, sich ‚endlich frei‘ fühlen. Denn diese Gefühle gehören nicht zum Wertekanon der Trauer und stoßen auf Argwohn. Sie wecken den Verdacht, ‚mit dem oder der ist ja was nicht in Ordnung‘“, erläutert die Autorin des Buches „Der Verlust der alten Eltern“.
Trauer wird erwartet
Sie stimmt mit Trauerrednerin Dumpert darüber überein, dass es kaum ein derart idealisiertes Verhältnis wie die Mutter-Kind-Beziehung gibt. Dumpert findet: „Dieser Mythos bleibt bis zum Tode bestehen. So wird auch erwartet, dass die Trauer beim Tod der Mutter eine der tiefsten ist, die ein Mensch fühlen kann. Dabei ist längst nicht jede Eltern-Kind-Beziehung schön gewesen, und dann ist es auch in Ordnung, wenn man erleichtert ist, diesen Menschen erst einmal nicht mehr sehen zu müssen.“ Doch auch in diesem Fall kämen die Hinterbliebenen um die Trauer nicht herum. Sie äußere sich etwa als Bedauern darüber, dass man eben kein gutes Miteinander hinbekommen habe.
Randow-Ruddies geht einen Schritt weiter: „Wenn wir unsere Eltern verlieren, ist auch unsere Kindheit endgültig verloren. War die Beziehung zu Mutter und Vater gut, gelingt es den verwaisten Erwachsenen liebevoll und warmherzig zu trauern. Sie tragen die Eltern im Herzen und können die Erinnerung an sie hervorholen, wenn sie es brauchen.“ Eine andere Qualität bekomme der Schmerz, wenn das Verhältnis belastet war, die Mutter missbräuchlich oder gewalttätig war. „Dann ist die Trauer vergiftet. Und auch wenn als erstes ein Gefühl der Erleichterung aufkommen mag, so weicht es früher oder später der erschütternden Erkenntnis, dass die letzte Chance verpasst ist, endlich das zu bekommen, was einem als Kind verwehrt blieb.“
Die Sehnsucht nach verweigerter Mutter- oder Vaterliebe könne einen Menschen, der „emotional hungrig“ geblieben sei, bis ins hohe Alter begleiten und ihn weiter auf eine blockierende Weise mit den verstorbenen Eltern verbinden. In solchen Fällen rät Antje Randow-Ruddies, die Hilfe von Trauerbegleiterinnen oder Therapeuten in Anspruch zu nehmen, um sich nach dem Tod von Mutter oder Vater wirklich befreit dem eigenen Leben zuwenden zu können.
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