Düsseldorf. Es hat nichts mit „lila Latzhose“ zu tun, wenn Barbara Steffens fordert, Geschlechter-Unterschiede stärker zu berücksichtigen.
- Die suboptimale Versorgung von Patienten verursacht unnötiges Leid.
- Aber auch Kosten – für das Gesundheitssystem.
- Das können wir uns nicht leisten, sagen Experten.
- Deshalb brauchen wir die Gendermedizin.
Unterschiede zwischen Männern und Frauen in der Medizin nicht zu berücksichtigen – kann sich unsere Gesellschaft gar nicht leisten. Das sagt Barbara Steffens, Chefin der Techniker-Krankenkasse in NRW. Die heute 62-Jährige saß für die Grünen im Düsseldorfer Landtag und war von 2010 bis 2017 Landesgesundheitsministerin. Ute Schwarzwald sprach mit ihr.
Die gendergerechte Medizin ist Ihnen, Frau Steffens, ein echtes Anliegen. Warum ist das so wichtig?
Wir haben ein großes Versorgungsproblem im Gesundheitssystem. Daher können wir es uns nicht erlauben, Ressourcen zu verschwenden. Aber genau das tun wir. Wir leisten es uns, beide Geschlechter suboptimal zu versorgen. Weil unsere Medizin nicht passgenau ist. Die Präzisionsmedizin – und dazu gehört die Gendermedizin – ist einer der entscheidenden Dreh- und Angelpunkte für die Zukunft. Jeder einzelne Fall, in dem ein Patient oder eine Patientin falsch behandelt wird, verursacht nicht nur persönliches Leid, sondern auch Kosten.
„Frauen sind ebenso wenig kleine Männer wie Kinder kleine Erwachsene sind.“
Wo sehen Sie die größten Baustellen?
Es fehlen geschlechterdifferenzierte Leitlinien der Fachgesellschaften. Diese müssen die neuen Erkenntnisse endlich umsetzen. Ärzte müssen differenziert Symptome erkennen und konkrete Behandlungswege, auch Dosierungsangaben bei Arzneimitteln machen können. Bei der Zulassung von Medikamenten hat sich schon vieles geändert, aber nur bei Neuzulassungen. Die früheren Arzneimittel-Zulassungen liefen noch über Studien oft mit rein männlichen Probanden. Und es reicht einfach nicht, Dosierungen von Wirkstoffen allein ans Körpergewicht der Patienten anzupassen. Frauen haben einen anderen Stoffwechsel, einen anderen Hormonstatus als Männer. Manche Wirkstoffe in der onkologischen Therapie etwa werden im weiblichen Körper viel langsamer abgebaut und führen zu heftigeren Nebenwirkungen, bei anderen Medikamenten brauchen sie höhere Dosierungen. Frauen sind ebenso wenig kleine Männer wie Kinder kleine Erwachsene sind.
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Wie lassen sich diese Defizite aus der Vergangenheit beheben?
Auf diese Frage gibt es noch keine Antwort. Wir brauchen sicherlich Nachuntersuchungen, Nachstudien.
Auch mit Blick auf die anstehende Digitalisierung der Medizin?
Gerade mit Blick darauf. Jede KI ist nur so gut wie die eingegebenen Daten. Und wenn wir jetzt KI mit den Ergebnissen alter Studien füttern, die Männer und Frauen in einen Topf geworfen haben, projizieren wir den Gender Data Gap nur weiter in die Zukunft. Man muss einer KI sagen können: Hier hast du 100 Studien mit überwiegend männlichen Probanden und hier eine, die ist Geschlechts-sensibel ausgelegt – und die musst du mit einem anderen Faktor gewichten. Tun wir das nicht, landen Frauen mit Herzinfarkt wieder bei der Magenspiegelung statt in der Kardiologie. Und noch mehr Männer werden an Brustkrebs sterben, weil der bei ihnen zu spät erkannt wird.
Weil sie vielleicht auch gar nicht wissen, wer für Männer mit Brustkrebs der richtige ärztliche Ansprechpartner ist…
Einen Männerarzt gibt es im Gegensatz zum Frauenarzt ja nicht. Zur Gynäkologin zu gehen, fällt Männern aber schwer. Da muss man andere Wege finden.
Männer tun sich auch schwerer mit psychischen Erkrankungen?
Das starke Geschlecht holt sich nicht gern Hilfe. Aber immer, wenn etwa ein prominenter Sportler seine Depression öffentlich gemacht hat, steigt der Beratungsbedarf, dann steigen die Zahlen. Auch an dieser Art von Wahrnehmung müssen wir arbeiten.
„Es gibt eine neue Sensibilität (...). Aber wir sind nicht da, wo wir sein sollten. Lange nicht so weit wie andere Länder.“
Einiges hat sich im Bereich der Gendermedizin schon getan. Pharmakonzerne etwa müssen bei der Entwicklung neuer Medikamente geschlechtsspezifische Unterschiede inzwischen berücksichtigen.
Ja, es gibt eine neue Sensibilität. Dass Studien geschlechterspezifisch erhoben – und ausgewertet! – werden, muss Standard sein. Aber wir sind nicht da, wo wir sein sollten. Lange nicht so weit wie andere Länder, Schweden etwa.
Was macht Skandinavien anders?
Dort hat man sehr viel früher begonnen zu erkennen, wie wichtig das Thema ist. Bei uns war Gendermedizin lange mit dem Stempel ‚lila Latzhose‘ versehen. In Schweden oder Norwegen blickt man ganz anders auf das Thema Männer/Frauen.
In Deutschland ist die Medizin auch noch immer eine männliche Domäne, jedenfalls auf der Führungsebene…
In der Tat, die Medizin hier ist extrem männlich dominiert. Auch wenn die Zahl der Studentinnen längst die der Studenten übersteigt. Aber schauen Sie nur in die Kliniken, die Kammern, die Ministerien: Wer da was zu sagen hat, ist meist ein Mann. Und der blickt anders aufs Thema als eine Frau.
Es fehlt an Daten, wird geklagt. Könnten die Krankenkassen da nicht helfen?
Natürlich liegen bei uns viele Daten. Aber wir dürfen sie nicht auswerten, jedenfalls nicht ohne Einwilligung der Versicherten.
Können Frauen selbst etwas tun? Es heißt, sie seien schwerer als Männer für Studien zu gewinnen…
Ich glaube nicht, dass sie öfter Nein sagen als Männer. Ich denke, sie werden einfach seltener auf eine Teilnahme angesprochen von ihren behandelnden Ärzten. Solange es politisch nicht gelöst ist, würde es vielleicht im Einzelfall helfen, wenn Frauen bei ihrem Arzt gezielt nachfragen: Stimmt die Dosierung des verschriebenen Medikaments auch für mich, als Frau?
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