Dortmund. Wenige Meter von der beliebtesten Einkaufsstraße des Ruhrgebiets wird heftig gedealt. Nicht versteckt, sondern sichtbar für jeden.
Den Crack-Dealer erkennt man an seiner zur Schale gekrümmten Hand. Mitten in der Dortmunder Innenstadt ist er unterwegs, er hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, die gelben „Steine“ in Folie zu wickeln. Das Crack wurde vermutlich irgendwo in der Nähe frisch aufgekocht. Nun läuft der Dealer mit den Kristallen in der offenen Hand über die Martinstraße, eine Gruppe Süchtiger scharrt sich um ihn. Nach dem schnellen Geschäft gibt der Dealer einer Kundin noch Windschutz, damit sie ihre Pfeife rauchen kann.
Lesen Sie mehr zum Thema: „Verhaftet zu werden, hat mir geholfen“
Nur wenige Meter von hier verläuft der Westenhellweg, die am besten besuchte Einkaufsmeile des Ruhrgebiets. Tausende Besucher müssen nur in die Martinstraße schauen, um diese Drogendeals zu sehen. Ausgemergelte Süchtige humpeln zum Kreisverkehr. Dieser Ort zieht alle an, die Drogen kaufen oder verkaufen, zieht sie in einen Strudel der Sucht. Rund um diesen Kreisel, zwischen dem Einkaufszentrum Thier-Galerie und der Drogenhilfeeinrichtung „Kick“, ist der heftigste Umschlagplatz des Ruhrgebiets entstanden. Und hier lässt sich die Wirkung einer Droge beobachten, die Bürgern und Fachleuten Sorgen bereitet: Crack.
Crack wird aus Kokain und Backpulver gekocht und meist in Pfeifen geraucht. Die Droge ist alles andere als neu. Schon vor fast vierzig Jahren lautete eine Spiegel-Schlagzeile „Gefährlich wie die Seuchen des Mittelalters“. Seitdem ist Crack nie weg gewesen, in Frankfurt und Hamburg gab es immer eine kleine Szene. Aber nun kommt die Droge mit Wucht: Europa wird von Kokain überschwemmt. Und auf der Straße kommt es oft als Crack an.
In den Jahren vor 2016 fand der Zoll im Schnitt zwei Tonnen im Jahr. Inzwischen ist es fast das Zwanzigfache. Eine Folge: Kokain und damit auch Crack sind so günstig wie nie. Crack macht nun dem Heroin Konkurrenz, oft nehmen es die Süchtigen auch zusätzlich. Ein Gramm kostet etwa 60 Euro, aber vor dem Café Kick am Dortmunder Kreisel werden auch einzelne Atemzüge verkauft. Wenn sie sich eine Pfeife teilt, erzählt eine Frau, zahlt sie nur 2,50 Euro für den kleinen Kick.
Jan Sosna ist Leiter des Café Kick. „Heroin konsumiert man vielleicht vier- bis fünfmal am Tag“, erklärt er. „Crack kann man auch 50-mal rauchen.“ Und einige tun das, solange das Geld da ist. Dieser Suchthunger macht die Droge so verheerend.
In ganz Europa ist der Kokainkonsum enorm gestiegen, das lässt sich an Rückständen im Abwasser ablesen. Aber Dortmund ist die Kokainhauptstadt der Republik, pro Einwohner gesehen sogar vor Berlin. Der Konsum von Kokain hat sich in den vergangenen zehn Jahren in Dortmund fast verdoppelt, die Stadt raucht und schnupft mittlerweile mehr als ein Kilo pro Tag. Auch wegen seines Einzugsgebiets mit dem Münster- und Sauerland gilt Dortmund als das „Verteilerzentrum des Westens“. Die Drogenszene ist schon immer übergroß. Zum Beispiel bekommen hier dreimal so viele Menschen Heroin-Ersatz wie in Essen.
Das Café Kick soll die Stadt entlasten. Im Konsumraum dürfen und sollen die Suchtkranken rauchen und spritzen. 2020 ist das Kick innerhalb der City umgezogen an den Kreisel. Es ist wohl Zufall, dass dies mit dem Anbranden der neuen Crack-Welle zusammenfällt. Der Konsum steigt im Kick exponentiell an. Und rundherum hat sich eine Szene gebildet, die sich nicht an Regeln hält. Die Drogengeschäfte und die Diebstähle, der Vandalismus und die Verrohung drängen in die Nachbarschaft.
Rund 150 bis 250 Kunden konsumieren Crack im Café Kick. Aber rund 30 Abhängige haben Hausverbot, weil sie drinnen gehandelt oder auf der Toilette konsumiert haben. Sie treiben sich im Umfeld herum, genau wie Dealer und die Süchtigen, denen der Weg in den Konsumraum zu aufwändig ist, erklärt Kick-Leiter Sosna: Sich eine Heroin-Spritze zu setzen, dauert ein paar Minuten, in denen man erwischt werden kann. Eine Crack-Pfeife kann man in wenigen Sekunden rauchen, sogar im Gehen. „Dass sich die Leute überhaupt die Mühe machen, zu uns zu kommen, ist ein Erfolg.“
Um die Crack-Süchtigen von der Straße zu bekommen, hat die Stadt die Öffnungszeiten des Kick ausgedehnt bis 20 Uhr. Das Hilfezentrum akzeptiert nun sogar auswärtige Konsumenten, weil viele Drogensüchtige sich eben nicht ordentlich an- und abmelden. Aus Sicht der Anlieger aber konzentriert das Kick damit die Szene vor ihrer Haustür.
Aus Sicht der Anwohner verstärkt das Kick das Problem
Herr Singh vom Restaurant Taj Mahal verzieht keine Miene unter seinem Turban, als er den Sprung in seiner Glastür zeigt. Er erzählt von Drohungen und zerstochenen Reifen und davon, wie ein Junkie neulich mit seiner Ganesha-Statue weg huschte. Raminder Singh gleich hinterher. Der indische Elefantengott hatte den Eingang des Restaurants bewacht – und nun beschützte er auch sich selbst. Er war zu schwer. Der Dieb ließ die Beute am Kreisverkehr stehen.
Während Herr Singh erzählt, weht der Wind wieder Alufolie zwischen seine Tische. Natürlich blieben Gäste fern, sagt er und deutet zu den gebückten Gestalten, die zwanzig Meter entfernt Drogen kaufen. Eine Jugendliche geht an ihm vorbei zur benachbarten Schülerhilfe. Ihre Augen weiten sich kurz irritiert, dann wendet sie sich ab.
Die Streife fährt vorbei
Eine Streife der Polizei hält am Eingang zur Martinstraße. Ein Dealer geht mit dem Crack in der offenen Hand auf drei Frauen zu, die neben dem Taj Mahal auf ihn warten. Als die Streife anfährt, entfernt er sich kurz von der Gruppe – das Geschäft geht weiter, als die Polizei noch in Sichtweite ist.
Luisi Donato wohnt nebenan, er hat die Szene ebenfalls beobachtet: „Das ist das übliche Prozedere. Die fahren einfach vorbei“, sagt er. Regelmäßig würden Autos aus Unna, Hamm oder Bochum anhalten: Drogenkäufer.
Eine Sicherheitskraft des nahen Gesundheitsamtes berichtet von Autos aus Litauen, Polen, England und Holland, die hier Pakete abgeben. „Die Dealer stellen sich gern mitten in den Kreisel, weil sie dann besser sehen, ob jemand kommt“, sagt der Sicherheitsmann. Allerdings lassen sie sich dann auch nicht stören. Er kennt hier jeden: „Den meisten sieht man es nicht an, aber hier ist fast jeder ein Dealer.“ Jede Nationalität sei vertreten. Sechzig Prozent seien mit Messer oder Schraubendreher bewaffnet – auch für ihn ist das gefährlich. Denn Ärger gibt es ständig.
„Ob wir hier sind oder nicht, ist egal“, glaubt Kick-Chef Sosna. Die Konsumenten würden auch ohne das Kick am Westenhellweg betteln. Aber auch er weiß: „In den Seitenstraßen um uns herum sind die Leute natürlich mehr betroffen.“
Und darum hat sich die Stadt lange nicht gekümmert. In Essen steigt auf niedrigerem Niveau die Zahl der Crack-Süchtigen ebenfalls, sie fallen dort aber weniger auf. (Bei dem Dutzend aggressiver Suchtkranker, die in der Innenstadt Gäste und Personal angingen, soll Crack keine Rolle spielen, heißt es seitens der Stadt.) Ein wesentlicher Grund: Es gibt ein Umfeld-Management, seit der Konsumraum besteht. In Dortmund wurde erst 2022 eine solche Stelle geschaffen und jährlich musste aufgestockt werden, weil es nicht reichte.
Anwohner Luisi Donato findet, die Behörden tun nicht genug. „Meine vierjährige Tochter muss so einen Scheiß mitansehen. Papa, guck mal, der hat Kacka auf die Straße gemacht. Um sechs Uhr morgens wird mein Sohn wach, weil sich die Junkies unter seinem Fenster um Drogen streiten. Wie oft die sich hier schon blutig geprügelt haben, mit Flaschen und Messern.“
Donato zeigt uns eine Garage, deren Rolltor abgerissen in der Ecke liegt. Der Boden ist bedeckt von Folien und Fäkalien. „Das Tor stand nur einen Spalt auf. Das haben sie hochgeschoben und dann hier gehaust und gedealt wie die Tiere.“
Ein Dutzend Drogenverkäufe können wir aus wenigen Metern Entfernung beobachten. Einmal fährt eine Streife des Ordnungsamtes vorbei, unmittelbar an einem Dealer und seinem Kunden, die sich nur kurz abwenden. Sie nutzen einen grauen Nissan als Sichtschutz, der am Eingang zum Kreisverkehr parkt. Ihr Geschäft findet nur wenige Zentimeter vor dem Gesicht des Herren statt, der im Auto wartet.
Wenig später kommt seine Frau mit einem Rollator, sie arbeitet in der Thier-Galerie – und muss einen Umweg gehen. Das Einkaufszentrum hat seinen Eingang zum Kreisel verschlossen: Zu oft haben Drogensüchtige Gäste beim Essen angesprochen oder alte Tabletts durchwühlt, haben Spritzen und Fäkalien und Blut hinterlassen.
Konfrontiert mit diesen Beobachtungen, erklärt die Stadt: „Das Ordnungsamt sanktioniert grundsätzlich den unerlaubten Betäubungsmittelkonsum. Und zwar immer dann, wenn die Mengen für ein strafrechtliches Verfahren nicht ausreichen oder die Betäubungsmittel bereits konsumiert wurden.“ Ansonsten sei die Polizei zuständig, die dann hinzugerufen werde. Die Polizei erklärt, der Bereich rund um das Café Kick werde intensiv beobachtet. Wenn Rechtsverstöße erkannt würden, besonders Drogenhandel, würden sie auch konsequent verfolgt. Die Beobachtungen würden an die Beschwerdestelle weitergeleitet.
Nur elf Kokainfunde im Jahr
Allerdings hat die Polizei im gesamten Jahr 2023 rund um das Café Kick nur rund 40 Drogendelikte festgestellt, elf davon mit Kokain. Die Behörde berichtet, dass man meist kein Crack finde, „sondern maximal Kokain“, da die Konsumenten das Crack selbst herstellen würden. Dies widerspricht allerdings nicht nur den Beobachtungen vor Ort, sondern auch den Aussagen von Konsumenten und Sozialarbeitern, dass Dealer seit Jahren zunehmend Crack direkt anbieten.
Überraschend ist auch die Einschätzung der Polizei, dass die Voraussetzungen für eine Videoüberwachung um das Café Kick nicht gegeben seien. Kameras können installiert werden, wenn an einem Ort wiederholt Straftaten begangen worden sind und die Strukturen das auch in Zukunft begünstigen würden. Das Restaurant Taj Mahal hat eine Kamera installiert – und als Sukhraj Kaur an der Theke ihr Handy damit verbindet, zeigt das Live-Bild prompt ein Drogengeschäft.
Der zweite Text des Schwerpunkts: „Verhaftet zu werden, hat mir geholfen“
„Insgesamt ist es wichtig“, heißt es in der Stellungnahme der Polizei, dass die drogenabhängigen Menschen die Hilfsangebote des Café Kick aufsuchen könnten. Man kontrolliere schon seit Juli 2023 stärker in der Innenstadt, am Borsigplatz und im Umfeld des videoüberwachten Dietrich-Keuning-Parks, auch mit verdeckten Streifen. Durch „den kontinuierlichen Flächendruck“ habe man die „offene Drogenverkaufsszene dezimieren“ können. Die Beschwerden des Einzelhandels in der Innenstadt seien zurückgegangen.
Weinhändler Matthias Hilgering sieht das anders. Schon im vergangenen Jahr schrieb er mit den anderen Händlern der Innenstadt einen Brandbrief an die Stadtspitze, in dem er schilderte, wie ein Crack-Konsument seine Frau beschimpfte: „Halt deine Fresse, sonst steche ich dich ab wie ein Schwein.“ Nun sagt Hilgering: „Das Verhalten wird schlimmer von Monat zu Monat. Es ist geschäftsschädigend.“ Er hat neulich einen Mann geschnappt, der ein E-Lastenrad stehlen wollte. Ein anderes Mal wurde Hilgering überrascht von einem Junkie, der hinter seiner Ladentheke kauerte.
Hilgering sagt diplomatisch, die Stadt und die Polizei täten ihr Möglichstes. Aber: Jeden Morgen gibt es Geschrei, Drohungen seien an der Tagesordnung. Aus Sorge um seine Kinder begleitet er sie jeden Morgen zur Schule.
Was kann man machen?
Tatsächlich hat die Politik bereits entschieden, den Konsumraum erneut zu verlegen. Gesucht werden nun gleich zwei neue Standorte – aber das ist schwierig, denn zentral muss das Angebot bleiben. Auch eine zusätzliche Übernachtungsmöglichkeit für Obdachlose in der Nähe des Hauptbahnhofs sieht das Konzept vor. Damit orientiert sich Dortmund am Züricher Modell: Dort gibt es deutlich mehr Sozialarbeit, Wohn und Beschäftigungsangebote, Treffpunkte, mehr Therapie, aber auch mehr Repression (was man in Dortmund nicht möchte). Die Sozialambulanz bietet Suchtkranken in Zürich die Hand, ist aber auch Anlaufstelle für Anwohner (wie in Essen). All das kostet vor allem: sehr viel mehr Geld.
Das Crack-Bett
Eine neue Idee ist das „Crack-Bett“, das die LWL-Klinik Dortmund nun anbietet. „Die Betroffenen müssen dem Stoffhunger hinterherrennen“, erklärt Chefarzt Arne Lueg. „Es passiert seltener, dass sie sich in den Zwischenräumen noch besinnen können.“ Aber wenn das mal der Fall ist, will man ihnen gleich ein Angebot machen können. Dabei steht das „Crack-Bett“ nicht wirklich in einer Ecke, es ist die griffige Umschreibung für eine neue Philosophie bei der Aufnahme. Früher wurden Menschen, die einen Crack-Entzug beginnen wollten, auf einen für die Klinik günstigen Zeitpunkt terminiert, nun werden sie wie andere Notfälle sofort aufgenommen.
„Es sind oft Patienten, die schon einmal bei uns waren“, sagt Arne Lueg. „Sie haben neben anderen Drogen auch Crack im Gebrauch.“ Der Sozialdienst sei der vielleicht wichtigste Faktor. „Es ist auch ein Problem von Obdachlosigkeit. Die Menschen befinden sich in gravierend schwierigen sozialen Situationen.“ Letztlich können die Klinik eine Entgiftung ermöglichen, aber keine Verhaltensänderung. „Man kann aber versuchen, sie in einer nachgeschalteten Reha anzustoßen“, sagt Lueg. Die Rentenkasse zahlt tatsächlich in solchen Fällen 22 Wochen. Langzeittherapie. Die Chancen in einem Satz gefasst: „Es muss immer etwas geben, für das es sich lohnt.“