Marl. Frühstück? Um 16 Uhr. Waschen? Heute nicht. Bier? Gern. Wenn Bewohner selbst bestimmen, passiert Ungeheuerliches, fand man in Marl heraus.
Nadine Fochler war entschieden dagegen. Therapeutisches Gammeln? Nichtstun als Konzept für die neue Demenzstation? Das würde niemals funktionieren, erklärte die Pflegedienstleiterin des Julie-Kolb-Seniorenzentrums in Marl. „Aktivieren, aktivieren, aktivieren“ hatte sie doch gelernt. Und: Ohne Ordnung, ohne feste Zeiten für die Mahlzeiten, ohne strikte Hygiene könnte so eine Station gar nicht funktionieren. Überhaupt: Was würden die Angehörigen sagen? Und die Heimaufsicht?
Heute, ein Jahr später, steht Fochler in der „Gammel-Oase“ der AWo-Einrichtung und sagt: „Ich bin von der größten Gegnerin zur größten Befürworterin dieses Konzepts geworden. Noch nie habe ich so entspannte Bewohner gesehen.“
Herr B. liegt noch im Bett – dem seines Zimmergenossen
Es ist kurz vor zwölf an diesem Montag im Mai. Frau A., die Langschläferin, sitzt in der Wohnküche beim Frühstück. Am runden Tisch plaudern andere Bewohner, Mitarbeiter und Angehörige miteinander; warten aufs gemeinsame Mittagessen. Herr B., früher Bergmann, liegt noch im Bett – wie so oft übrigens: in dem seines Zimmergenossen.
An den Handläufen im Flur hängen dutzende bunter Schals „zum Mitnehmen und Befummeln“ – und über den Lehnen grün-gelber Sessel ein paar Jacken. Wem sie gehören: egal; wer eine braucht, nimmt sie sich. Auf dem Boden vor der Anrichte liegt ein zerfleddertes Liederbuch; in der Küche stehen Reste der Weihnachtsdeko herum – und überall Wasserflaschen und gebrauchte Gläser. Frau C., die Bewegungsfreudige, ist unterwegs mit einem Servierwagen; räumt ab. Herr D., der einmal Landwirt war, verschwindet eilig in den Garten. Frau E. kurvt auf der Suche nach ihrer „Mama“ mit dem Rollator durchs Haus; sehr vorsichtig, denn sie hat die Nägel frisch lackiert. Frau F. hat es sich unter einer rosafarbenen Decke auf dem Sofa im Wohnzimmer gemütlich gemacht und ist dort eingenickt. Herr G. sitzt so beseelt wie zufrieden in seinem Rollstuhl vor einem riesigen Glas saurer Drops. Willkommen in der „Gammel-Oase“ des Julie-Kolb-Seniorenzentrums, dem ersten, das für demenziell erkrankte Bewohner das Gammeln zum 24-Stunden-Konzept gemacht hat.
Altenpfleger: „Mir gefiel nicht, wie man die Menschen gängelte“
Dr. Stephan Kostrzewa, examinierter Altenpfleger und diplomierter Sozialwissenschaftler, hat es „erfunden“. „Die Grundidee“, betont der 58-Jährige indes, „habe ich zusammen mit Friedhelm entwickelt.“ Friedhelm, das ist Dr. Friedhelm Lischewski, einst Kostrzewas Sowi-Lehrer am Duisburger Clauberg-Gymnaisum, heute 75, ein Freund – und einer der 14 Bewohner der Gammel-Oase.
„Wäre es wirklich so revolutionär, wenn man auch demenziell veränderte Menschen wie vollwertige Menschen behandelte? “
Kostrzewa sagt, seine Pflege-Ausbildung sei „erste Sahne“ gewesen, „aber mir gefiel nicht, wie man in den Heimen mit den Menschen umging, wie man sie gängelte, ihre Tage durchstrukturierte, sie mit Firlefanz zu beschäftigen versuchte.“ Er fragte sich: Geht das nicht auch anders? Wäre es wirklich so revolutionär, „wenn man auch demenziell veränderte Menschen wie vollwertige Menschen behandelte“, wenn man sie „in Frieden“ ließe, ihnen die Regie über ihr eigenes Leben zutraute? In der Palliativmedizin – das entdeckte er während der Nachtwachen im Hospiz, mit denen er sein Studium finanzierte – mache man es doch genauso: „Da stehen die Wünsche und Bedürfnisse der Betroffenen radikal im Mittelpunkt der Sorgekultur.“
„Therapeutisches Gammeln statt Aktivierungsterror“
Aus dieser Haltung heraus entwickelte Kostrzewa sein Konzept und nannte es „Therapeutisches Gammeln“ – als „hedonistischen, lustorientierten Gegenentwurf“ zum gelehrten „Aktivierungsterror“. „Eine reine Kopfgeburt“, erinnert er sich. „Ich habe es 30, 40 Einrichtungen angeboten. Keine wollte es ausprobieren.“
Die Marler Einrichtung der Arbeiterwohlfahrt, deren Mitarbeiter Kostrzewa seit Jahren schulte, wagte es vor einem Jahr dann doch. „Ein Bereich stand leer, wir wollten umstrukturieren“, erklärt Christian Löbel, Wohnbereichsleiter der Gammel-Oase. Sieben Doppelzimmer wurden hergerichtet und zwei große Gemeinschaftsräume, 15 Mitarbeiter eingestellt und geschult, die ersten gerontopsychiatrisch weitergebildet. Die meisten kamen von außerhalb, einige ganz ohne Pflegeerfahrung. „Wir wollten nicht die alten Strukturen unbewusst weiter leben“, erklärt Löbel.
Die Haus-Un-Ordnung
Heimaufsicht und eine Hausarztpraxis wurden früh mit ins Boot geholt, die Arbeitszeiten rasch „angepasst“. Morgens um halb sieben, wenn auf anderen Stationen die „Grundpflege“ (Wecken, Waschen, Zähne putzen, Anziehen, Essen reichen) alle verfügbaren Kräfte fordert, schlafen hier noch die meisten Bewohner. Abends sind sie dafür länger auf den Beinen. Der Betreuungsassistent, der bis 0.30 Uhr zusätzlich zur Pflegekraft vor Ort ist, schmiert Brote für die Nachteulen, serviert ihnen dazu Tee, auch mal ein Bier. Besuch ist hier rund um die Uhr gern gesehen.
„Die Kleidungsstücke passen nicht zusammen, aber ich habe mich alleine angezogen.“
Als allererstes aber wurde eine wunderbare „Haus-Un-Ordnung“ verfasst und aufgehängt: „Mein und Dein ist nicht so wichtig“, heißt es da etwa. Oder: „Die Kleidungsstücke passen nicht zusammen, aber ich habe mich allein angezogen!“ Menschen mit Demenz, weiß Nadine Fochler inzwischen, stört es nicht, wenn sich der Farbton der Bluse mit dem des Blazers beißt, wenn Wäschestücke verwechselt werden oder wenn mit den Händen statt der Gabel gegessen wird. „Es sind die Orientierten, die das nicht tolerieren können.“ Damit bestimmte Wertvorstellungen bewahrt bleiben, wurde vorab Eckpunkte vereinbart. „Nackt ausziehen wird sich hier niemand“, erläutert Fochler, „wenn der Bewohner nicht dementiell verändert wäre, würde er das ja auch nicht tun“.
Psychopharmaka zur Ruhigstellung: „Das ist doch krank“
Dass einige Angehörige mit dem Konzept zunächst Probleme hatten, war die einzige ihrer Sorgen, die sich bewahrheitete. Doch auch die, so scheint es, lernten schnell. Nur eine Angehörige holte ihren Mann aus der Gammel-Oase wieder heraus, brachte ihn in einem anderen Heim unter, erzählt Fochler. „Und das tut ihr längst leid.“
Was letztendlich alle überzeugte: Wie sich die Bewohner veränderten. Wie ruhig sie wurden – und wie wenig Pillen sie hier brauchten. „Medikation-Absetzversuche gehören zum Konzept“, erklärt Kostrzewa. Psychopharmaka „als Bedarfsmedikation, zur Ruhigstellung“, würden gar nicht mehr gegeben. „Das ist doch krank, dient nur der Ablaufoptimierung.“ Aber auch darüber hinaus kämen heute die meisten Bewohner mit weniger oder ganz ohne Tabletten zurecht, bestätigt Christian Löbel. Eine Frau habe sich in der Gammel-Oase sogar so gut erholt, dass sie inzwischen wieder alleine (betreut) leben könne. Kinder von Bewohnern meldeten überrascht zurück: „So war die Mama früher“. „Psychopharmaka verändern die Persönlichkeit“, erklärt Kostrzewa.
Deswegen ertrügen es die Angehörigen nun auch, so Fochler, dass der Mutter für den Sonntagsbesuch „kein Blüschen angezogen wird“ – wenn sie das nicht will. Schwieriger zu vermitteln sei gewesen, dass auch die Grundpflege – wie Backen oder Tanzen – in Marl nur ein Angebot ist. Doch in letzter Konsequenz, erläutert Kostrzewa, beinhalte Selbstbestimmung eben auch das „Recht auf Verwahrlosung“. Solange der Arzt keine Einwände hat, wird hier also nicht gewaschen, wer nicht gewaschen werden will. Ein Bewohner hielt es ganze fünf Wochen aus...
Pflegedienstleiterin: Reagieren statt Agieren
„Und das muss man als Pflegekraft auch aushalten können“, sagt Löbel. Er ergänzt: Nicht jede kann es. Zwei Mitarbeiter kündigten schnell wieder. „Und das ist völlig in Ordnung“, findet Pflegedienstleiterin Fochler, die persönlich sehr gern in der Gammel-Oase „aushilft“, „wegen der vielen tollen Momente, die ich hier erlebe“. „Man muss das Konzept selbst leben wollen, damit klarkommen nur zu reagieren, statt zu agieren.“
Inzwischen hat sich der Erfolg herumgesprochen, Medien berichten, ein Filmemacher dreht hier, eine Studentin schreibt ihre Bachelorarbeit über das Modellprojekt, Heimleitungen aus ganz Deutschland haben in Marl das Gammeln beobachtet, „ein paar überlegen ganz intensiv, es einzuführen“, erzählt Kostrzewa. Grundsätzlich, denkt Löbel, sei das Konzept in jedem Heim umsetzbar. „Die Grundeinstellung muss nur stimmen.“ Nadine Fochler sagt: „Viel mehr Einrichtungen sollten sich trauen, diesen Weg zu gehen. Er ist der richtige.“
Bewohner der Gammel-Oase: „Jeder Tag hier ist anders. Und jeder ist unheimlich gut“
Kein Tag sei wie der andere, erzählt Bewohner Friedhelm Lischweski. Aber jeder: „unheimlich gut“. Oft spiele er auf seiner Flöte, am liebsten „Amazing Grace“; hin und wieder besuchten ihn ehemalige Schüler, „die noch etwas vertiefen möchten“. Einmal sei auch Gitarrist rein geschneit, mit dem er zusammen Musik gemacht habe; und mit Constanze (einer Pflegekraft aus Ghana) unternehme er sehr gern lange Spaziergänge. An anderen Tagen bleibe er einfach im Bett. „Geht hier alles“, sagt er strahlend, bevor er sich auf die Couch zurückzieht. „Ich bin ein wenig schlaff heute“, entschuldigt sich der Ex-Lehrer, „ich habe Alzheimer.“
Betreuungsassistentin Andrea Faust rückt ihm ein Kissen zurecht. Sie wechselte nach einem kurzen Praktikum Anfang des Jahres als feste Kraft in die Gammel-Oase. Sie sagt, natürlich gebe es auch hier Streit und Konflikte, die die Bewohner aber meist selbst klärten; und ja, die Arbeit sei sehr herausfordernd. „Aber wenn ich einmal alt und dement bin, will ich genauso leben.“
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