Dortmund. Eine Mutter aus Dortmund erzählt, wie ihre Tochter überfahren wurde – mit Tempo 150 an einem See. Es ist ein herzzerreißender Appell.

„Das ist meine Tochter Marie, 18 Jahre alt, getötet von einem Raser. Es ist ein so, so sinnloser Tod!“ Claudia Wagner steht mit einem Foto ihrer Marie auf dem Mittelstreifen der B1 in Dortmund. „Das war Maries Strecke“, sagt die 56-Jährige, sie wohnt noch immer 500 Meter Luftlinie von hier. Es ist auch die Strecke der Raser, die noch immer in Dortmund einfallen – trotz aller Kontrollen und schärferen Strafen.

Die Mutter erzählt ihre Geschichte im Jahr 2022 auf Einladung der Polizei, um Raser zum Nachdenken zu bringen. Sie will zeigen, welche Schicksale hinter der Statistik stecken. Wir veröffentlichen diesen Artikel erneut in aktualisierter Form, da die Zahl der illegalen Rennen weiter steigt: Fast sechs solcher Straftaten fallen der Polizei jeden Tag auf, allein in NRW. Obwohl die Strafen sich verschärft haben, hat sich diese Zahl vervierfacht seit 2018. Auch die Zahl der Unfälle steigt kontinuierlich, wenn auch zuletzt weniger Personen ums Leben kamen. Doch am Mittwochabend erst hat ein Porsche auf der A44 am Kreuz Dortmund-Unna mehrere Bäume durchschlagen, im Auto verbrannten ein Vater und sein Sohn. Sie sollen sich mit einem anderen Autofahrer ein Rennen geliefert haben.

Mehr in unserem Schwerpunkt „Illegale Rennen“:

„Ich habe drei wundervolle Töchter“, sagt Claudia Wagner. „Katharina ist 31. Caroline ist 30 und Marie wäre im letzten Monat 26 Jahre alt geworden. Bis zum 11. Juni 2014 habe ich mich oft als den glücklichsten Menschen der Welt bezeichnet. Ich war an diesem Tag nach der Arbeit beim Sport, habe mir dann etwas zu essen gemacht. Ich erinnere mich, dass im Hintergrund Aktenzeichen XY lief, als gegen 21 Uhr der Anruf kam. Im Hintergrund rief eine meiner Töchter immerzu Mama. Irgendwann sagte Katharina dann die Worte, die mein Leben für immer verändern sollten: Mama, Marie ist tot. Es war als würde man mir das Herz herausreißen. Nein, es war hundertmillionenmal schlimmer.“

Sie konnte barfuß im Regen tanzen

„Marie war gerade 18, hatte ihr Einser-Abi in der Tasche, war voller großer Pläne“, sagt Claudia Wagner. „Sie war so unfassbar humorvoll. Sie brachte jeden Raum, den sie betrat, zum Leuchten. Sie spielte Volleyball, war Kapitänin ihrer Mannschaft. Sie konnte barfuß im Regen tanzen und steckte alle mit an. Nach dem Abi war sie eine Woche in Bulgarien, dann ein paar Tage zuhause, um darauf ihre Schwester Katharina in Nürnberg zu besuchen, die dort studiert hat. Die beiden hatten eine wunderbare Zeit. Sie gingen schwimmen und Eis essen. Am Abend des 11. Juni wollten sie noch mit Inlinern eine Runde um den See fahren. In diesem Naherholungsgebiet wurde sie mit mindestens 150 Stundenkilometern vom Auto eines Rasers erfasst. Sie hatte keine Chance. Katharina stand nur 50 Zentimeter hinter ihr.“

Die Täter. Sie sind fast alle junge Männer, manche auch mittleren Alters. Und Dortmund zieht sie offenbar magisch an. Der allergrößte Teil kommt von außerhalb. Oft aus dem Sauerland, aus dem Märkischen oder dem Kreis Soest, aber natürlich auch aus Iserlohn, Lünen, Hamm, Hagen, Waltrop, Schwerte, Rheda, Bochum, Köln, die Polizei hat sogar Raser aus Holland und Baden-Württemberg geschnappt. Es ist eine Szene, wobei die Polizei unterscheidet zwischen Rasern, Tunern und Posern. Straßenrennen sind seit 2017 eine Straftat, selbst wenn man alleine rast. Zwei Jahre Haft drohen – wenn Menschen gefährdet werden fünf, wenn sie verletzt werden zehn Jahre.

Ein täglicher Kampf gegen das Vermissen

Der Mann, der Marie getötet hat, war 27 Jahre alt, stand unter Drogen und Alkohol. Er wurde zu drei Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt, „allerdings nur, weil er vorbestraft war“, sagt die Mutter. „Ich habe lebenslänglich bekommen … Ich muss jeden Tag einen Kampf führen gegen das Vermissen“

Du rast. Einer stirbt. Hier wohnst Du dann. Dazu ein Foto aus dem Dortmunder Gefängnis. Das ist die Plakatkampagne der Polizei.
Du rast. Einer stirbt. Hier wohnst Du dann. Dazu ein Foto aus dem Dortmunder Gefängnis. Das ist die Plakatkampagne der Polizei. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

„Man liest immer wieder in Foren: Mir kann das nicht passieren. Ich beherrsche mein Auto zu hundert Prozent. Wenn ich sowas höre“, sagt Claudia Wagner, „dreht sich mir der Magen um. Niemals kann das so sein. Niemals beherrscht man sein Fahrzeug zu 100 Prozent. Bitte, stellen Sie sich vor, ihre kleine Schwester, ihre Liebste, ihre Eltern, vielleicht ihre Großeltern oder der beste Freund stirbt durch einen Raser. Stellen Sie sich nun vor, sie hätten hinterm Steuer gesessen. Können Sie damit leben, einen Menschen getötet zu haben, ein Leben als Mörder zu führen. Wie fühlen sich ihre Eltern, als Eltern eines Mörders?“

Bis zu 10.500 Euro mussten die Täter in Dortmund 2021 zahlen, bis zu 30 Monate ihren Führerschein abgeben. Manchmal beschließen die Gerichte auch, die eingezogenen Fahrzeuge zu beschlagnahmen. Am Ringwall in Dortmund, eine Strecke, die Raser offenbar notorisch mit einer Carrerabahn verwechseln, herrscht nun von 21 bis 5 Uhr morgens Tempo 30. Es gibt einen Schwerpunkt bei Polizei und Staatsanwaltschaft nur für Raser. Und dennoch. Im Ruhrgebiet kracht es fast jeden Monat irgendwo, bisweilen im Wochentakt. Es ist ja auch so: Je mehr Kontrollen die Dortmunder Polizei macht, desto mehr weicht die Szene aus.

Claudia Wagner erzählt ihre Geschichte immer wieder, auch vor Schülern. Sie tut das in der Hoffnung, dass potenzielle Raser sie hören oder lesen. Sie möchte dem Tod ihrer Tochter noch irgendeinen Sinn abtrotzen. Die Mutter sagt: „Maries letzter WhatsApp-Status war: Der Sommer meines Lebens“.