Berlin. Rücken- oder Kopfschmerzen: Millionen leiden dauerhaft unter Schmerzen – die Ursache: oft unklar. Eine besondere Therapie soll helfen.

Wenn der Alltag ständig von Schmerzen geprägt ist, wird das Leben zur Qual, für die sich oft keine Ursache finden lässt: Längst verheilte Wunden lassen keine Ruhe, und im Rücken zwickt es anhaltend, obwohl sich kein Bandscheibenvorfall oder andere Ursachen finden lassen. Der Schmerz verliert seine Funktion als Warnsignal des Körpers und verselbständigt sich. Die Deutsche Schmerzgesellschaft schätzt, dass rund 16 Millionen Deutsche unter chronischen Schmerzen leiden. Fast die Hälfte (43 Prozent) von ihnen musste länger als ein Jahr auf eine Diagnose warten, 19 Prozent von ihnen fühlen sich nicht angemessen behandelt.

Die Therapie ist eine Herausforderung, denn chronischer Schmerz ist ein komplexes Phänomen, das von vielen Faktoren beeinflusst wird. Neben körperlichen Ursachen spielen auch psychische und soziale Aspekte eine Rolle. Winfried Meißner, Leiter der Sektion Schmerztherapie am Universitätsklinikum Jena, erklärt, wie auch äußere Faktoren Einfluss nehmen können: „Das ist wie bei Zahnschmerzen, die am Wochenende auftreten – und man hat keine Schmerzmittel zu Hause. Wenn man dann weiß, dass es erst am Montag Hilfe gibt, werden die Beschwerden durch das Gefühl verstärkt, ihnen ausgeliefert zu sein”, sagt Meißner.

Schmerztherapie: Wenn Medikamente nicht mehr gegen Schmerzen helfen

Drei bis sechs Monate dauert es in der Regel, bis man von chronischen Schmerzen spricht. Eine Diagnose steht oft erst viel später fest. Wer betroffen ist, zieht sich häufig zurück, kann seine Arbeit nur mit Mühe oder gar nicht bewältigen, schläft schlecht, hofft auf immer neue Therapien und ist nur noch mit seinen Schmerzen beschäftigt. Solche Menschen können von einer sogenannten interdisziplinären multimodalen Schmerztherapie (IMST) profitieren. „Wir kümmern uns um die Patienten, bei denen einzelne klassische Maßnahmen wie Physiotherapie oder Medikamente keinen Erfolg gebracht haben – und die sehr leiden. Nicht selten kommen bei ihnen noch Herz-Kreislauf-, Lungen- oder psychische Erkrankungen hinzu – der Zusammenhang zwischen den Schmerzen und diesen Beeinträchtigungen wird derzeit erforscht”, erklärt Experte Meißner.

Bei der multimodalen Schmerztherapie wird der Mensch in seiner Gesamtheit betrachtet. Zu den verschiedenen Behandlungsmethoden, die aufeinander abgestimmt und kombiniert werden, gehören medikamentöse Therapie, Physiotherapie und Akupunktur, psychotherapeutische Therapie durch kognitive Verhaltenstherapie, Entspannungstechniken oder Stressbewältigung. In schmerztherapeutischen Kliniken wie in Jena arbeiten Ärzte, Psychotherapeuten, Physio- und Ergotherapeuten sowie spezialisierte Pflegekräfte bei der Behandlung zusammen. Nach einer ausführlichen Untersuchung entscheiden sie im Team, ob der jeweilige Patient von der multimodalen Therapie profitieren kann.

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Neuer Therapieansatz: Verhindern, dass Schmerzen chronisch werden

Zusätzlich zu dieser Behandlungsform gibt es derzeit Ansätze, mit denen verhindert werden soll, dass Schmerzen überhaupt chronisch werden. Das wollen Schmerztherapeuten, Psychologen und Physiotherapeuten durch ein ambulantes Angebot erreichen. Es umfasst Bewegungs- und Entspannungsübungen über zehn Tage sowie Gespräche – einzeln und in Gruppen. Dieses Angebot wird innerhalb der Studie Pain 2.0 erprobt, an der 23 Schmerzzentren über zwei Jahre teilgenommen haben. Ihre Ergebnisse werden derzeit ausgewertet. Die Anästhesistin und Schmerzexpertin Sandra Blenk aus Düsseldorf hat vielversprechende Erfahrungen gemacht, da die Patienten noch keine lange Krankheitsgeschichte haben und sich daher besser motivieren lassen, aktiv zu werden. Sie sagt: „Wir wollen ihnen zeigen, dass sie selbst etwas gegen ihre Schmerzen tun können.”

„Wir kümmern uns um Patienten, bei denen einzelne klassische Maßnahmen wie Physiotherapie oder Medikamente keinen Erfolg gebracht haben“, sagt Winfried Meißner, Leiter der Sektion Schmerztherapie an der Uniklinik Jena.
„Wir kümmern uns um Patienten, bei denen einzelne klassische Maßnahmen wie Physiotherapie oder Medikamente keinen Erfolg gebracht haben“, sagt Winfried Meißner, Leiter der Sektion Schmerztherapie an der Uniklinik Jena. © UKJ | UKJ

Der bessere Umgang mit Schmerzen ist auch Teil des Konzepts der multimodalen Schmerztherapie. „Um dies zu erreichen, vereinbaren wir gemeinsam Ziele. Beispiele dafür sind: Ich will keine unnötigen Medikamente mehr nehmen, ich will wieder aktiv sein und meinen Hobbys nachgehen”, erläutert Chefarzt Winfried Meißner. Die Behandlung kann je nach Klinik komplett stationär oder teilstationär ablaufen. In Jena bilden sieben bis neun Patienten aller Altersgruppen eine Gruppe, für die es vier Wochen lang täglich ein individuelles und vielfältiges Programm gibt.

Rücken- und Kopfschmerzen: Patienten nehmen weniger Schmerzmittel

Die Psychotherapeutin Manuela Zinke, die zum Klinikteam in Jena gehört, führt aus: „Dazu gehören nicht nur physiotherapeutische oder sportliche Aktivitäten, sondern auch Übungen zur Achtsamkeit, um das Körpergefühl zu stärken oder das Genießen zu üben.“ Bei einer Aromatherapie könnten die Patienten etwa die Sinne bewusst erleben und zusätzlich Methoden lernen, wie man Stress bewältigt. Zinke ist überzeugt, dass die Arbeit in der Gruppe entscheidend zum Therapieerfolg beiträgt: „Es macht keinen Unterschied, ob die Teilnehmerinnen und Teilnehmer jung oder alt sind, ob sie unter Rücken-, Kopf- oder Endometrioseschmerzen (ausbreitende Gebärmutterschleimhaut, Anm. d. Redaktion) leiden – die Auswirkungen des Schmerzes sind ähnlich. Die Menschen können sich gegenseitig helfen, damit klarzukommen.“

Nach der klinischen Behandlung gilt es, das Erlernte im Alltag anzuwenden und fortzusetzen. Um die Motivation aufrechtzuerhalten, gibt es nach zwei bis drei Monaten zwei sogenannte Auffrischungstage: „Dann besprechen wir gemeinsam mit den Betroffenen, was funktioniert hat und was noch verbessert werden muss“, erklärt Winfried Meißner, der seit zehn Jahren die Resultate der multimodalen Schmerztherapie an seiner Klinik verfolgt. Zu den Erfolgen gehört unter anderem, dass die Zahl der Patienten, die Schmerzmittel wie Opioide nahmen, deutlich abgenommen hat.