Worpswede. Reetdächer überdauerten einst ganze Generationen. Heute bereitet vorzeitig verrottendes Schilf so manchem Hausbesitzer Albträume. Handwerker reagieren mit strengen Materialprüfungen. Doch Klimawandel und intensive Landwirtschaft bleiben Bedrohungen.
Die Halme funkeln golden in der Worpsweder Abendsonne. Wolfgang Thiel streicht noch einmal prüfend über den Giebel, nickt zufrieden und packt sein Werkzeug zusammen. Gerade hat der Reetdachdecker das letzte von 4000 Bund Reet verbaut. Und nun hoffen alle, dass er dem Museum Haus im Schluh in Worpswede frühestens in 30 Jahren wieder aufs Dach steigen muss.
Reet ist geschnittenes und gebündeltes Schilfrohr. Es wächst an Flüssen, Seen und im Niedermoor und galt lange als schwer verwüstliches Eindeckmaterial. Die Widerstandskraft verdankt es Bestandteilen wie dem so genannten Holzstoff Lignin und dem wasserabweisende Silizium. Thiel aus dem niedersächsischen Lübberstedt ist seit 1981 Reetdachdecker. Er und seine Innungskollegen sprechen bei einem gesunden Reetdach von einer durchschnittlichen Haltbarkeit von 30 Jahren. Mit fachkundigen Stopfarbeiten halte das Dach weitere zehn bis 15 Jahre. "Bis ein Dach undicht ist, kann es durchaus 50 Jahre dauern."
Seit der Jahrtausendwende greift jedoch das Phänomen der vorzeitig verrottenden Dächer um sich. Das Reet zerbröselt oder wird pappig. Thiel spricht von Dächern, bei denen "der untere Teil Matschepampe war".
Ursachen für bröselndes Reet
Wissenschaftler machen mehrere Ursachen dafür verantwortlich. Als Hauptfeind des Reets entlarvten sie den Weißfäulepilz, der das Lignin zersetzt. Neue Regeln der Dachdeckerinnung und eine 2008 etablierte Reet-Zertifizierung sollen Abhilfe schaffen. "Das Schlimmste ist überstanden, weil man reagiert hat", meint Thiel. Wer in Niedersachsen ein denkmalgeschütztes Haus eindecken möchte, darf nur zertifiziertes Material verwenden. Viele Dachdecker arbeiten heute ausschließlich damit.
Geprüft wird das Reet von dem Agrarwissenschaftler Gunter Schlechte aus Bockenem in Niedersachsen. Der Wassergehalt von 18 Prozent dürfe nicht überschritten werden, das Material müsse "biege- und reißfest", erklärt er. Entscheidend sei die Halmwanddichte. "Je dichter, desto weniger Saugkraft." Gekoppelt mit der richtigen Eindecktechnik und Hinterlüftung stehen die Chancen auf ein langes Reetdachleben gut. "Wichtig ist, dass das Wasser außen abläuft und nicht einsickert", bestätigt Dachdecker Thiel.
Ausgasungen überdüngter Felder schaden dem Reet
Beschleunigt wird die Verrottung aber durch intensive Landwirtschaft. Die Abluft aus Massentierhaltungsställen oder die Immissionen überdüngter Felder lagern sich im Reet ein. Das belegen Schlechtes jüngste Forschungsergebnisse. "Es geht den Weißfäulepilzen ganz prima auf den Reetdächern, wenn noch der Stickstoff dazukommt." In von Tiermast geprägten Regionen, etwa im Raum Vechta und Cloppenburg, wies Schlechte eine zehnfach höhere Stickstoffkonzentration in Reetdächern nach als anderswo.
Nur noch etwa zehn Prozent des in Deutschland verbauten Reets stammen aus heimischer Ernte. Vielerorts sind die Schilfflächen aus Naturschutzgründen geschützt. Das wenige in Ostfriesland, Dithmarschen oder an den Flüssen Wümme und Weser geerntete Reet falle häufig wegen zu geringer Halmwanddichte durch die Zertifizierung, bedauert Schlechte. "Hauptlieferanten sind Ungarn, Rumänien, die Türkei und China." Auch das 35 Zentimeter dicke Reetdach auf dem Haus im Schluh stammt aus China. (dpa)