Essen.. Zahnärzte entdecken heute vor allem in hochentwickelten Ländern Schäden an Zahnhälsen, die es früher nicht gab. Nun kommen Steinzeit-Forscher dem Phänomen auf die Spur: Die Zähne unserer frühen Vorfahren waren belastbarer, obwohl – oder auch weil – sie schon mal auf Sand kauten.
Zahnärzte und Patienten stellt die neuartige Diagnose an den Zahnhälsen vor ein Problem. „Dort springen oft keilförmige Stücke vom Zahnschmelz ab“, sagt Ottmar Kullmer. Der Wissenschaftler vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum in Frankfurt am Main untersucht eigentlich das Leben der Menschen in der Steinzeit und ihrer Verwandten wie den Neandertalern. Um mehr über deren Ernährung herauszubekommen, analysiert er Abnutzungsspuren auf den Zähnen unserer frühen Vorfahren. Nun ist er dabei – gemeinsam mit Stefano Benazzi vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (EVA) in Leipzig – diesem neuen Zahn-Problem auf die Spur gekommen.
Das Zahnfleisch entzündet sich
Der Zahnhals ist der Übergang von der Krone mit ihrer extrem harten und dicken Schmelzschicht zur Wurzel, die von einem knochenähnlichen, ein wenig weicheren Zement bedeckt ist. In diesem Übergangsbereich ist der Schmelz recht dünn und wird vom Zahnfleisch bedeckt. Reparieren kann der Zahnarzt dort also kaum. In den Absprengungen nisten sich Bakterien ein, Entzündungen können das Zahnfleisch zurückgehen lassen. Dadurch können sich Zähne lockern.
Um das zu verhindern, müsste man aber die Ursache kennen. Bei seiner Fahndung kam Kullmer ein Computermodell zugute, mit dem er die Belastung der Zähne von Steinzeitmenschen berechnet. Beim Kauen reiben die Kronen der jeweils gegenüber stehenden Zähne aneinander. Auch wenn dort mit dem Zahnschmelz die härteste Substanz des Körpers, das Hydroxylapatit, mahlt, splittern immer wieder winzigste Teile ab. Da Menschen eine weiche Banane anders als kräftiges Muskelfleisch kauen, unterscheidet sich dieses Abriebmuster zwischen den Liebhabern von Pudding, Karotten oder Steaks deutlich.
Auf den Zähnen entstehen im Laufe der Jahre so typische Muster von Schleifspuren, Höckern und schrägen Kanten, die Ernährungsgewohnheiten speichern. Sie unterscheiden sich von Mensch zu Mensch – fast wie ein Fingerabdruck. Kullmer und seine Kollegen analysieren diese Zahnmuster mit der von ihm entwickelten „Occlusal Fingerprint Analysis-Methode“ OFA und anderen Programmen. Anhand des Kaubewegungsmodells erkennt EVA-Forscher Benazzi, wo die stärkste Belastung auftritt: Ausgerechnet am Zahnhals mit seiner dünnen Schmelzschicht. Erst einmal steckt ein gesunder Zahn die auf ihn wirkenden Kräfte locker weg. Nur nutzt ein Mensch sein Gebiss einige Jahrzehnte lang und der Zahn der Zeit nagt normalerweise an der schwächsten Stelle mit der höchsten Belastung. Zunächst entstehen wohl winzige Haarrisse. Dort aber dringt etwa Fruchtsaft ein, dessen Säure weiter an der Substanz nagt. Vielleicht sind diese Schwachstellen auch einem allzu kräftigen Schrubben der Zähne nicht gewachsen. Der Zahn splittert.
Das Gebiss hobelte sich rasch ab
„Weshalb aber hat sich in der Evolution überhaupt eine solche Schwachstelle entwickelt?“, grübelte Kullmer zunächst. Die Erklärung lieferten die Zähne von Steinzeitmenschen: Deren Gebiss war vor allem bei Älteren ziemlich verschlissen. Schließlich hatte in der Steinzeit kein Metzger die Sehnen vom Fleisch entfernt. Aßen die Menschen damals Beeren und Früchte, vor allem aber nahrhafte Knollenpflanzen aus dem Boden, knirschte Sand zwischen den Zähnen. Das Gebiss hobelte sich rasch ab. „Die abgekauten Zähne aber könnten die Belastungen anders übertragen“, vermutete Kullmer. Um diese Überlegung zu testen, berechneten die Forscher die Bewegungsdaten von vorderen Backenzähnen. In einem Zahn-Artikulator, der zur Standardausrüstung eines Zahntechnikers gehört, simulierten die Forscher die Kaubewegungen und nutzten in diesem Gerät den Zahn so mit der Zeit künstlich ab. Benazzi berechnete die Belastungen beim Kauen in diesen abgenutzten Zähnen. Jetzt verteilen sich die Kräfte viel gleichmäßiger im Zahn und verringern so die Zugspannung im äußeren Bereich des Zahnhalses deutlich.
„Offensichtlich verliert die Zahnkrone zwar einiges an Substanz, dieser Verlust verringert aber die Kräfte auf den Zahnhals und verlängert so die Lebensdauer“, so Kullmer. Die Evolution liefert demnach keinen Pfusch am Zahn, sondern einen ausgewogenen Kompromiss: Der Zahn wurde zwar im Laufe eines Steinzeitlebens immer weniger, gleichzeitig aber auch haltbarer. Heute aber hat sich die Situation grundlegend geändert. Zumindest in den hochentwickelten Ländern knirschen nur noch äußerst selten Sand oder Sehnen zwischen den Zähnen. War das Gebiss in der Steinzeit im Alter von 40 Jahren schon verschlissen, wirkt es heute meist noch fast wie neu. Der Steinzeitmensch konnte sich diesen Zahnverlust durchaus leisten, schließlich lag die Lebenserwartung nicht einmal bei 40 Jahren.
Vielleicht kommt nun das Zahngold wieder zum Einsatz
Heute in der Kantine Sand ins Essen zu mischen, um so den Verschleiß am Gebiss zu vergrößern, wäre trotzdem keine gute Idee. Schließlich will niemand haltbare, aber mit 40 bereits abgekaute Steinzeitzähne haben. Kullmer schlägt vor: „Zahnärzte sollten das Gebiss vielleicht altersgerecht reparieren und dabei zumindest die geringe Abnutzung unserer Zeit berücksichtigen.“ Moderne Keramiken sind sehr hart. Das Material nutzt sich praktisch nicht ab und hält so die Belastung für den Zahnhals dauerhaft hoch. Vielleicht spielt ja der althergebrachte Goldzahn wieder seine Vorteile aus, weil das relativ weiche Edelmetall sich mit der Zeit abnutzt?