Essen. . Die schönen Dinge wollen wir behalten. Weil sie uns wertvoll erscheinen. Oder aufbewahrungswürdig. Der eine hortet Comics, der nächste Briefmarken – und manche Frau sammelt Schuhe. Sie alle vereint, dass sie etwas besitzen wollen, das bleibt. Wir gingen einem urmenschlichen Phänomen auf den Grund.

Anna (11) tut es regelmäßig. Lutz (38) tut es. Und auch der im letzten Jahr mit 78 Jahren verstorbene Van Cliburn hat es getan. Während Schülerin Anna zuletzt nach Fußballsammelkarten gierte – „Drei Philipp Lahms für einen Thomas Müller!“ – und Informatiker Lutz seit Jahren Wissenschaftsmagazine in seinem Wohnzimmer zu immer höheren Bergen auftürmt, die ihm und anderen den Weg versperren, liebte der US-Pianist Gemälde, antike Möbel, Porzellan und Instrumente. Seine Residenz in Fort Worth (Texas) glich einem Museum. Dass sich die Anschaffungssummen, von denen hier die Rede ist, zwischen null Euro – die Fußballbilder gab es bei Einkäufen ab einer bestimmten Höhe gratis im Supermarkt dazu, vorausgesetzt man hatte zahlungsfähige Eltern – und mehreren Millionen US-Dollar bewegen, spielt keine Rolle. Denn was Anna, Lutz und Van Cliburn eint, beziehungsweise einte, ist die Lust am Sammeln.

Auch wenn die Steinzeit längst vorbei ist – wir sind immer noch Jäger und Sammler. Wir alle jagen etwas nach oder hinterher. Weil wir es besitzen wollen, es nie besessen haben oder davon besessen sind. Wir sammeln Dinge, die uns schön erscheinen, wertvoll oder aufbewahrungswürdig. Manchmal sind es Dinge, die auch andere für schön, wertvoll oder aufbewahrungswürdig halten: schicke Schuhe, rare Briefmarken oder Familienschmuck. Manchmal aber auch solche Devotionalien, die nur für uns persönlich von Bedeutung sind. Die Briefe verflossener Liebhaber, die schon ganz blank gekuschelten Plüschtiere oder die Zuckerpäckchen aus allen Urlaubscafés der letzten 30 Jahre, in denen wir Kaffee getrunken haben. Wer sammelt, der möchte, dass etwas bleibt. Vom Leben, von der eigenen Wichtigkeit oder von dem, was Leidenschaft greifbar macht. Sammler sind Menschen, die nicht loslassen können. Wirklich?

Einer, der sehr gut loslassen kann, heißt Thomas Olbricht, ist Prof. Dr. Dr., und lebt in Essen-Kettwig. Der 66-Jährige ist Arzt und sammelt seit 60 Jahren alles mögliche – zuletzt vor allem Kunst. „Für mich etwas, das Freude vermittelt, und die sollte man unbedingt teilen“, sagt er. 2010 hat er diese Überzeugung in die Tat umgesetzt. Mit der Stiftung Olbricht, die einerseits zeitgenössische Kunst, Künstler und Kuratoren fördert, und andererseits das Interesse von Kindern und Jugendlichen an Kunst wecken möchte. Im „me collectors Room Berlin“ zeigt die Stiftung eine fest installierte Wunderkammer mit über 200 Objekten aus Renaissance und Barock sowie wechselnde Ausstellungen zeitgenössischer Kunst. In der Wunderkammer begegnet man solchen Dingen, die bis heute Betrachter, ganz egal, ob jung oder älter, in Staunen versetzen.

Bis an die Grenze zur Sucht

Einem in Silber gefassten Kokosnuss-Pokal, den einst Alexander von Humboldt (1769-1859), der berühmte deutsche Naturforscher und Weltreisende, sein eigen nannte und der, neben einer christlichen Bekehrungsszene, Kannibalen aus Brasilien, eingraviert in die narbige Schale der Tropenfrucht zeigt. Dem Spiegel aus Bernstein, der so golden leuchtet wie flüssiger Honig, in dem das Licht sich fängt. Das Horn des sagenumwobenen Einhorns aus den Märchen, das in Wirklichkeit der Stoßzahn eines Narwals ist. Oder Möbel, sogenannte Kunstkammerschränke, die nicht das sind, was sie, auf den ersten Blick, zu sein scheinen, weil sie ein Geheimnis bergen. Die Wunderkammer erfüllt ihren Zweck: „Die, die sie betreten, wundern sich, ihr Entdeckergeist wird geweckt. Das ist das Ziel. Mut, Abenteuerlust und Kreativität zu fördern.“ Olbricht mag es, andere an dem, was ihn anfeuerte, teilhaben zu lassen. „Zwar lässt die Sammelwut mit dem Alter nach, aber früher war das sehr leidenschaftlich, bis an die Grenze zur Sucht. Als Jäger und Sammler will man Dinge haben, die sehr selten sind. Und man glaubt: ,Dieses Wild muss ich erlegen’. Der Wunschtraum aller Sammler ist der, etwas Einzigartiges zu besitzen. Es gibt verschiedene Sammlertypen, den geheimen Sammler, der seine Schätze ganz für sich behält und allein anschaut, und den anderen. So ein Typ bin ich. Zu sammeln und die Freude an den wunderbaren Objekten zu teilen, ist für mich wie ein Lebenselixier. Ich möchte die Menschen, insbesondere Kinder, auf eine Entdeckerreise zu schicken. Sie sollen suchen, finden und dann Erfahrung sammeln, zum Beispiel mit der Kunst.“

Das Netz hat das Sammeln transparent gemacht 

Sammeln, das weiß Olbricht, kann man viele Dinge: „Gedanken, Erfahrungen, Menschenkenntnis.“ Muscheln am Meer, wie er selbst, als Vierjähriger, auf Sylt. Oder Briefmarken: „Als Kind wollte ich alle Briefmarken dieser Welt haben, aber ich habe schnell gemerkt, dass das gar nicht geht.“ Heute sammelt er neben zeitgenössischer Kunst auch ausgestopfte Tiere, Spielzeugautos oder Memento-Mori-Objekte, die an die Sterblichkeit des Menschen gemahnen. Darüber, dass die Wunderkammer jetzt mit Dingen bestückt ist, die ihm einst tagtäglich zu Hause begegneten, ist er nicht traurig: „Das ist ja alles noch da, die Besucher sehen es, und ich habe die Bilder im Kopf.“ Solche Bilder wie das des Kokosnuss-Pokals, der derzeit zu Gast im Mauritshuis in Den Haag weilt. „Die Freude an den Objekten zu teilen, ist beinahe genauso schön wie das Sammeln selbst.“

Die Sache mit dem Jagdinstinkt

Zunehmend wechseln Sammelobjekte nicht nur in Galerien, auf Messen und in Antiquitätengeschäften, auf Flohmärkten, bei Auktionen oder Tauschbörsen den Besitzer. Der Online-Flohmarkt „oldthing.de“ wollte 2013 wissen, wie es um die Zukunft des Sammelns bestellt ist und startete eine Umfrage bei seiner Kundschaft im Internet. Zwar schweigt sich das Portal über die Anzahl erhaltener Antworten aus, aber das, was dabei herauskam, lässt durchaus hoffen. 69 Prozent glaubten: „Es wird weiter gesammelt“. 82 Prozent waren der Meinung dass Online-Angebote das Sammelverhalten verändert haben („Sammeln wird einfacher, das Angebot größer und die Preise sind transparenter“). Beliebteste Sammelobjekte in Deutschland: Ansichtskarten, Kleidung und Schuhe, Uhren und Schmuck (Frauen bis 45), Antiquitäten und Bücher (Frauen über 45), Games, Videos und Münzen (Männer bis 45) und Antiquitäten, Briefmarken und Ansichtskarten (Männer ab 45).

In einem ähneln sich unsere Großmütter, die noch Glanzbilder in Zigarrenkisten aufbewahrten, um sie zu tauschen, Frauen, die 15 000 Barbies ihr eigen nennen, Männer, deren höchstes Glück es ist, Staub der Vergänglichkeit zu entreißen oder Kinder, die im Herbst Kastanien aufklauben, um sie mit nach Hause zu nehmen.

Daniel Hug (45), seit 2009 Direktor der Art Cologne, bringt das auf den Punkt: „Ich glaube, zu sammeln ist menschlich. Jeder sammelt etwas. Ob es Briefmarken sind oder Münzen oder, wie Napoleon, Länder. Es ist auch teilweise der Jagdinstinkt. Es gibt verschiedene Gründe.“ Nach Hugs Ansicht unterscheiden sich Kunstsammler, die für Beuys, Baselitz & Co. unfassbare Summen auf den Tisch legen, darin nicht von jemand, der seine Kollektion von Bierdeckeln erweitern möchte: „Es geht um den Wert, den Sachen besitzen. Alles, was eine prominente Herkunft hat, hat einen großen Wert. Das trifft auf den Rennwagen, der bei der Monte Carlo-Rallye gefahren ist oder James Dean gehört hat, ebenso zu wie auf ein Kunstwerk, das in einem berühmten Museum gestanden hat oder aus dem Privatbesitz eines berühmten Sammlers stammt. Die meisten Museen haben ja ursprünglich auch einmal als Privatsammlungen begonnen. Viele Sammler wollen auch das, was sie gesammelt haben, behalten. Sie würden ihre Sammlung nie verkaufen. Sammeln kann auch fanatisch werden. Die meisten Sammler sind sehr ordentlich, aber das kann auch aus dem Ruder laufen. Solche Sammler horten Sachen. Für viele Kunstsammler ist es auch ein Ziel, frühzeitig einen Künstler zu entdecken, vor den anderen. Um dann stolz darauf zu sein: ,Wow, ich hatte ein tolles Auge!’“

Die Kunst des Aufhörens 

Auch Hug sammelt: „Bis jetzt war es zeitgenössische Kunst und langsam fange ich an, etwas anderes zu sammeln, was ich nicht verraten will, es ist auch Kunst, aber die ist nicht von heute. Andere Dinge sammle ich nicht. Meine Frau sammelt Schuhe. Aber so viele wie bei Imelda Marcos sind es nicht. Dann hätten wir auch keinen Platz mehr im Haus. Viele Sammler hören auf, wenn im Haus kein Platz mehr ist. Aber es gibt auch solche, die dann zusätzlich Lagerräume oder -hallen anmieten.“

„Was Sammeln ist, weiß jeder“

Sehr umfassend und faszinierend nähert sich Manfred Sommer, Professor für Philosophie an der Universität Kiel, dem Thema an. Sein Buch „Sammeln – Ein philosophischer Versuch“ (Suhrkamp) erschienen. Der Philosoph beginnt sehr lässig bei Null („Was Sammeln ist, weiß jeder“) um von da aus seine Leser aus diversen Blickwinkeln und Ansätzen hinaus mit einem Phänomen vertraut zu machen, das mit Adam und Eva seinen Anfang nahm („Sie waren, natürlich, die ersten Sammler. Sie lebten von dem, was die Natur ihnen anbot, sie brauchten es nur aufzulesen oder abzupflücken“), mächtige Renaissancefürsten dahingehend beflügelte, sich ein Kabinett mit Kuriositäten anzulegen oder heutzutage Museen, Archive und Bibliotheken am Leben erhält. Wenn Sommer Thesen wie „Es gibt nur ein Sammeln. Dieses ist wesentlich konservativ und findet im ästhetischen Sammeln seinen reinsten Ausdruck“ postuliert, dann demonstriert er damit Meinungsfreude und Bereitschaft zur Konfrontation. Nach 434 – zugegeben recht eng und klein gedruckten – Seiten dürfte es zum Thema Sammeln eigentlich keine Fragen mehr geben: Was ist sehenswert und warum? Was will man bewahren und weswegen? Wieso gelten Kunstsammler als die Sammler par excellence? Sammelt man bloß Dinge? Oder mitunter sogar sich selbst? Genau dadurch?

Dass am Ende das Sammelns nicht nur ein Resultat steht (oder erwünscht wird), sondern der Prozess des Sammelns genauso wichtig ist, liegt für Sommer auf der Hand: „Ginge es nach dem Sammeln lediglich darum, das Gesammelte nun beisammenzuhalten, so wäre es das Einfachste, alles mit einem mächtigen Betonmantel zu umschließen oder für eine halbe Ewigkeit in Glas einzuschmelzen. Aber das Gesammelte ist ja dazu bestimmt, wieder zu verschwinden oder zur Betrachtung dargeboten zu werden. Nichts hindert einen Sammler daran, nicht nur gelegentlich ein Stück, sondern auch einmal alle Stücke zugleich wegzugeben, damit sie anderswo gezeigt werden können.“

Nur zwei Dinge sind unersetzlich

Die WM ist inzwischen vorbei und Annas Sammelalbum voll. Sie hatte so viele doppelte Fußballspieler, Trainer und Maskottchen Paules, dass sie damit ihr Kinderzimmer hätte tapezieren könnte. Stattdessen hat sie sie verschenkt. Doch die nächste Sammelbild-Aktion des Supermarkts wird nicht lange auf sich warten lassen. Lutz hat, auf die Frage von Freundin Claudia – „Kann es sein, dass du ein Messi bist?“ – , die Zeitschriften erstmal in den Keller verfrachtet. Wegschmeißen kann er sie nicht. Denn eines Tages wird er sie bestimmt noch lesen. Oder verleihen. Die Versteigerung von Cliburns Nachlass hat Christie’s in New York übernommen.

„Es gibt nur zwei unersetzliche Dinge“, hat der Pianist kurz vor seinem Tod in einem Interview gesagt, „großartige Musik und wunderschöne Erinnerungen.“ Zwei Dinge, die man im Herzen trägt und die unverkäuflich sind. Sie passen weder in eine Vitrine noch in ein Museum. Und auch nicht unter den Hammer. Aber immerhin: Man kann sie teilen. Auch das ist Kunst.