Essen. Neue Studien widerlegen alte Rollenmuster: Das Liebesleben heutiger Frauen ist so lustbetont und freizügig wie nie zuvor – und es kommt sogar ohne das zarte Mäntelchen der Liebe aus. Doch was bedeutet diese an sich begrüßenswerte Entwicklung fürs Gleichgewicht der Geschlechter?

„Die mit dem Zopf, da hinten, die jetzt so laut lacht – richtig, oder?“ Ellen sitzt mit Mark in einem Gartencafé; die Sonne lässt Haare glänzen und Weingläser glitzern. Sie versucht zu erraten, welche der Frauen Mark attraktiv finden könnte. Nur so, zum Spaß. Sie sind seit acht Jahren ein Paar, Ellen kennt seine Vorlieben – die Haarfarbe (blond, wie sie), den Frauentyp (sportlich – naja, fast wie sie). Ihre Trefferquote: 80 Prozent! Mark lacht und bestellt noch zwei Tassen Espresso, extra stark – weil auch er weiß, was Ellen mag. Oder sagen wir: zu wissen glaubt.

In Wahrheit kann Mark sich gar nicht vorstellen, Ellen zu betrügen.

In Wahrheit genießt Ellen die Chance, bei ihrem Spiel dem einen oder anderen Mann eindeutige Signale zu senden.

Frauen sind auch nur Männer. Neue Studien enthüllen, dass die weibliche Lust mindestens ebenso groß und ungestüm ist wie die männliche – und sogar ohne das zarte Mäntelchen der Liebe auskommt. Nie sind Frauen so selbstbewusst mit sich, ihrem Körper und ihren Bedürfnissen umgegangen wie heute. Was bedeutet das fürs Gleichgewicht der Geschlechter?

Die Idee der passiven, (an)trieblosen Frau schien der Kulturgeschichte lange nicht auszutreiben, Abweichungen waren höchstens in der Literatur vorgesehen – als warnendes Beispiel. Die drei großen Ehebruchsromane heißen nicht zufällig „Anna Karenina“, „Effie Briest“ und „Madame Bovary“: Wenn die Dame nur mal an der Rose des Kavaliers roch, witterte man gleich die gesamtgesellschaftliche Verwesung – um fremdgehende Männer aber machte man schon damals kein Drama.

Verfügbarkeit ausstrahlende Frau mit acht Buchstaben? Schlampe.

Noch in den vergangenen Jahrzehnten fanden Evolutionsbiologen gute Gründe dafür, dass die Menschenweibchen von Natur aus versessen darauf sein müssen, ein Menschenmännchen vor den Traualtar zu zerren, Schrankwand und Kleinbus anzuschaffen – und Nachwuchs zu zeugen. Weil ihre „Ehekosten“ (die Schwangerschaft, die Kinderbetreuung) so viel höher seien als die des Mannes (der nur ein paar Spermien beisteuert), sei das Weib eine treue Seele, eher auf friedliches Kuscheln denn frivoles Kamasutra gepolt. Während der Mann von Natur aus sein Erbgut möglichst weit streuen will. Er kann nicht anders, der Arme!

Und selbst in unserer Elternzeit-Gegenwart, unserer Wickelmonate-Wirklichkeit, gestehen wir den Geschlechtern höchst unterschiedliche Freiheiten zu.

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Von Britta Heidemann

Kleiner Test: Ein Wort für den virilen, Verfügbarkeit ausstrahlenden Mann? Charmeur.

Ein Wort für die virile, Verfügbarkeit ausstrahlende Frau, ebenfalls mit acht Buchstaben? Schlampe.

Auf dieses Kribbeln verzichten?

Machen wir uns damit nicht – zum Affen? Denn die Realität zeigt, dass auch Frauen ein zutiefst menschliches Bedürfnis haben: das Verlangen nach Sex. Marion, Mitte 40 und Single, trifft sich zum lockeren Hormonabgleich mit Männern, die sie auf Internetportalen kennengelernt hat. Die 20-jährige Denise schläft mit ihrem besten Freund, wenn es sich ergibt; in ihren Kreisen laufen solche Beziehungen unter „Friends with benefits“ oder „Freundschaft plus“. Selbst liierte Frauen sind dem Abenteuer zugeneigt. Isabel, Anfang 30 und seit Jahren mit einem gutaussehenden, liebevollen Ehemann gesegnet, langweilt sich, sehnt sich nach Abwechslung – und fragt bang: „Soll ich für immer auf dieses Kribbeln verzichten?“

Isabel lebt und liebt in New York und ist eine der vielen Zeuginnen, die der amerikanische Journalist Daniel Bergner für sein Buch über „Die versteckte Lust der Frauen“ anführt. Darin schildert er, wie eine Reihe von Forschern (oft: Forscherinnen) das landläufige Bild weiblicher Sexualität ins Wanken bringen. In den USA hat Bergner es damit in die Talkshows ebenso wie in die New York Times geschafft, die nach Lektüre des Buches gleich mal die Revolution ausrief: „Wenn viele Wissenschaftler dieselben Dinge zur selben Zeit herausfinden, dann deshalb, weil sie danach gesucht haben; ein kultureller Wandel hat bereits stattgefunden. Die Geschichte des libidinösen Mannes und der sexuell indifferenten Frau ergibt für uns keinen Sinn mehr.“ Zeit, ein paar Vorurteile aus dem Bett zu werfen.

Vorurteil 1: Frauen sind wählerischer

Das Verhalten der Großstädter zur Paarungszeit lässt sich trefflich studieren, wenn man eine Speed-Dating-Veranstaltung besucht. Viele Studien haben belegt, dass die Männer stets sehr viele Frauen für akzeptabel erachteten. Die Frauen hingegen zeigten sich entschieden wählerischer, zögerlicher, taten also alles, um die These von den „Ehekosten“ zu belegen.

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Und wir könnten diese Geschichte nun folglich beenden – auf Wiedersehen und danke, dass Sie bis hierhin dabei waren!

Wenn nicht zwei US-Psychologen auf die Idee gekommen wären, einen entscheidenden Umstand zu verändern: Sie ließen die Männer, nicht die Frauen, an den Tischen warten, und die Frauen von einem zum anderen gehen. Und plötzlich sagten die Damen genauso oft „Ja“ zu einem zweiten Date wie die Männer!

Vielleicht spiegelt dies, was in westlichen Gesellschaften passiert ist: Die Frauen dürfen jetzt herumgehen und wählen, wie sie leben wollen – und mit wem.

Mitleid mit den Männern 

„Frauen sind selbstbewusster geworden, auf jeden Fall“, sagt Bettina Kirchmann. Seit zehn Jahren führt die Sexualtherapeutin in Düsseldorf eine eigene Praxis. Ihr Bild von den Geschlechtern hat sich gewandelt: „Früher, im Studium, war ich sehr feministisch unterwegs. Heute habe ich manchmal sogar Mitleid mit den Männern.“ Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern, sie werden kleiner. „In meiner Praxis sitzen Männer, die sich genauso wie Frauen nach Bindungen sehnen“, sagt die 42-Jährige, „und Frauen, die genauso wie Männer das Abenteuer suchen.“ Die ihre One-Night-Stands genießen, die auf Internet-Portalen nach Sexpartnern suchen – oder nichts dabei finden, regelmäßig Pornofilme zu schauen.

Vorurteil 2: Frauen sind weniger erregbar

Als in den 70er Jahren eine erste Studie nachwies, dass auch Frauen durch Pornofilme erregt werden (siehe Interview), gab es selbst in der Fachwelt empörte Reaktionen. Damals nahmen Studentinnen der Post-68-er-Freizügigkeit teil; inzwischen hat die US-Forscherin Meredith Chivers gezeigt, dass Pornofilme in der Tat bei einer Mehrzahl der Frauen positive körperliche Reaktionen hervorrufen – die aber nicht immer eingestanden werden.

Chivers ließ hunderte Probandinnen Pornofilme anschauen, dabei maß sie die Durchblutung ihrer Vagina und somit den Grad der Erregung. Frauen wurden, im Gegensatz zu den Männern, auch von Filmen angeturnt, die nicht ihrer sexuellen Vorliebe entsprachen (also Hetero-Frauen etwa auch von Lesben-Filmen). Und im Gegensatz zu den Männern unterschätzten sie selbst das Ausmaß ihrer Erregung in eklatanter Weise. Daniel Bergner, der die Versuche beschreibt, fasst sie in zwei provokanten Sätzen zusammen: „Die weibliche Libido ist ein Allesfresser.“ Und: „Der Verstand verleugnet die Vagina.“

Letztere These belegte die Psychologin Terri Fischer, die Studentinnen und Studenten Fragebögen zum Thema Masturbation und Pornokonsum vorlegte. Gruppe 1 sollte die Antworten einem Kommilitonen aushändigen, Gruppe 2 wurde Anonymität zugesichert, Gruppe 3 wurde an eine Lügendetektor-Attrappe angeschlossen. Wollen Sie raten? Die Frauen der Gruppe 1 masturbierten niemals, wirklich! – und schauten auch echt überhaupt gar keine Pornos. Die Frauen in Gruppe 2 gaben schon mehr zu. Aber nicht alles. Denn in Gruppe 3, die fürchten musste, der Lüge überführt zu werden – antworteten die Frauen genauso wie die Männer!

Ein Phänomen, das die Essener Diplompsychologin und Sexualtherapeutin Claudia Kader-Tjijenda nur zu gut kennt: „Wenn Frauen mir das erste Mal erzählen, dass sie Pornofilme anschauen, geht das einher mit Peinlichkeit und Scham. Das rührt an ein großes Tabu: Darf ich als Frau so etwas gut finden?“ Denn, auch dies widerspricht dem Klischee – Frauen scheinen sich an der weiblichen Objektwerdung in diesen Filmen nicht zu stören. Im Gegenteil. „Viele dieser Frauen sagen, dass die typischen Paar-Pornos – die sanfter sind, softer, mit einer Geschichte drum herum – sie nicht erregen. Wenn sie zugeben können, auch vor sich, Pornos gut zu finden, dann schauen sie die gleichen wie die Männer.“

Vorurteil 3: Frauen mögen’s höflich

Der größte Kopfkino-Hit der vergangenen Jahre war – ein Buch. Die Trilogie „Shades of Grey“ verkaufte sich weltweit über 70 Millionen Mal. Ein schlecht geschriebener „Mommy Porn“, dessen Heldin sich den schrägen Sado-Maso-Phantasien ihres Märchenprinzen unterwirft. Widerspricht das nicht der Idee der in sexuellen Dingen selbstbewussten Frau?

Typische Erklärungsversuche erzählen davon, dass genau diese moderne Frau es insgeheim genießt, die so mühsam erkämpfte Macht stundenweise zu verlieren. Der Job, die Kinder, das Abendessen, die Wäsche: „Wie viele Frauen wären froh, wenn sie mal die Kontrolle abgeben könnten“, sagt Bettina Kirchmann. „Dieses Genommenwerden, machtlos sein, das ist ja schon eine sehr häufige Fantasie“ – Betonung auf: Fantasie! „Was natürlich nicht heißt, dass Frauen vergewaltigt werden wollen!“

Die US-amerikanische Forscherin Marta Meana hat eine weitere Erklärung gewagt, der in die durchaus paradoxen Untiefen der weiblichen Psyche führt. Dafür hat sie viele böse Mails bekommen – und noch mehr begeisterte. Ihrer Meinung nach wurzeln die „Überwältigungsfantasien“ im weiblichen Narzissmus. Dieser sei untrennbar mit der weiblichen Lust verbunden: Denn Frauen wollen begehrt, wollen gewollt werden.

Ob Frauen, allem Freiheitsdenken zum Trotz, deshalb eher selten auf die Idee kommen, einen Prostituierten für Sex zu bezahlen? Weil sich das echte, wahre Begehrtwerden eben nicht erkaufen lässt?

Daran, dass Frauen grundsätzlich jeglichen Fremdenverkehr ablehnen würden, kann es jedenfalls nicht liegen.

Vorurteil 4: Frauen sind treue Seelen

Als Meredith Chivers mit ihrem Messgerät den Probandinnen genug Pornofilme vorgespielt hatte, verlegte sie sich auf pornografische Tonbandaufnahmen voller kleiner Höhepunkte. Ohne nun allzu sehr ins Detail gehen zu wollen: Wie Chivers stichhaltig nachwies, zeigten sich die Frauen nur so mäßig erregt, wenn es um den wilden Rausch mit Langzeitgeliebten ging. Jedoch: „Sex mit Fremden löste dagegen die heftigsten Wallungen aus.“

Frauen und der Fremdenverkehr: Einer Studie zufolge gehen in Deutschland Frauen in Beziehungen sogar leicht häufiger fremd als Männer – mit einer Quote von 39 Prozent zu 37 Prozent. Psychologen der Uni Göttingen befragten knapp 3000 Männer und Frauen, die ihren Partnern untreu geworden waren, das ernüchternde Fazit: Die Allermeisten waren schlicht in ihrer Partnerschaft sexuell unzufrieden. Wieder waren es etwas mehr Frauen als Männer, die der häusliche Sex nicht mehr so recht begeisterte: 85 Prozent zu 79 Prozent.

Viagra für Frauen? 

Neue Studien legen sogar nahe: Die zugegebenermaßen weit verbreitete weibliche Kunstfertigkeit, den Orgasmus perfekt vorzutäuschen, dient nicht etwa dazu, den Männern Könnertum zu signalisieren. Wie US-Psychologin Erin Cooper nachwies, wollen die Frauen sich damit vor allem – selbst in Fahrt bringen.

Der Trick verwundert nicht. Fast die Hälfte aller deutschen Paare lebt über Wochen ohne Sex, und die Flaute ist: weiblich. Das Hamburger Institut für Sexualforschung veröffentlichte Zahlen, wonach das sexuelle Interesse einer Frau schon nach zwei bis vier Jahren Partnerschaft deutlich nachlässt. Während es beim Mann weitgehend konstant zu bleiben scheint. Ein Phänomen, das quer durch alle Altersklassen zu beobachten sei.

Die Folgerung der Hamburger Experten: Frauen können Sex und Liebe offenbar doch besser trennen, als gemeinhin angenommen.

Die neue Lust der Frauen

Wäre es nicht toll, wenn es ein Medikament gäbe, das die Lust der Frauen auf ihre geliebten Partner ganz neu entfacht? Nicht wenige Pharma-Firmen testen bereits eine Art „Viagra für Frauen“. Dabei gibt es zwei Schwierigkeiten. Zum einen ist der benötigte Hormoncocktail nicht eindeutig, schließlich geht es bei Frauen nicht allein um Standfestigkeit. Zum anderen gilt es, die mächtige amerikanische Zulassungsbehörde nicht durch allzu großen Erfolg zu verschrecken. Der Journalist Daniel Bergner zitiert in seinem Buch den Berater einer Pharmafirma, die eine Lustpille entwickelte: „Die Experten im Raum diskutierten heftig darüber, dass man Frauen keinesfalls in Nymphomaninnen verwandeln wollte. Es gibt da einen Vorbehalt, sexuell aggressive Frauen hervorzubringen. Da steht gleich die Vorstellung des gesellschaftlichen Niedergangs im Raum.“

Achtung, Emma-Bovary-Alarm!

Die in sexuellen Dingen selbstbewusste Frau rüttelt am traditionellen Weltbild, auch heute noch – und an unseren ohnehin nur noch locker gezimmerten Beziehungskisten. Zwar sagen viele Männer, sie wünschten sich eine selbstbewusste Partnerin. Wehe, wenn der Wunsch in Erfüllung geht: „Eine Frau, die fordernd ist, die weiß, was sie will, auch im Bett – damit kommen viele Männer dann doch nicht klar“, sagt Claudia Kader-Tjijenda.

Dabei könnte es so einfach sein: Frauen sind auch nur Männer – also müssen Männer sich nur fragen, was sie selbst wünschen in Sachen Sex, Liebe, Beziehungen. Und schon verstehen sie auch die Frauen.

Ellen und Mark zahlen; auf dem Nachhauseweg gehen sie Hand in Hand. „Und beim nächsten Mal“, sagt Mark, „verrätst du mir, wer dein Typ ist – ja?“ Ellen sieht ihn erstaunt an. Kann er sie doch noch überraschen.

  • Die Bücher der Experten
  • Daniel Bergner: Die versteckte Lust der Frauen. Ein Forschungsbericht. Erschienen im Knaus-Verlag, 368 Seiten, 16,99 €
  • Volkmar Sigusch: Sexualitäten. Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten. Herausgegeben vom Campus-Verlag, 626 Seiten, 39,90 €