Essen. Hat sich die Sexualität der Deutschen im Laufe der Jahrzehnte gewandelt? Was kam nach den 68ern? Und wie schaffen es manche Paare, doch über viele Jahre ihre Lust aufeinander aufrecht zu erhalten? Wir sprachen mit dem Sexuologen Volkmar Sigusch über die Gegenwart in deutschen Schlafzimmern.

Das Intimleben der Deutschen kennt wohl kaum einer besser als der Sexuologe Professor Volkmar Sigusch, der 33 Jahre lang das Frankfurter Institut für Sexualwissenschaft leitete. Soeben erschien sein neues Buch „Sexualitäten“, das Einblicke in die Schlafzimmer der Gegenwart gewährt. Britta Heidemann sprach mit dem 73-Jährigen.

Herr Sigusch, Sie haben 1996 in einem „Spiegel“-Essay den Begriff der „neo­sexuellen Revolution“ geprägt – was genau passierte in dieser Revolution, und was bedeutete das für die Frauen?

Volkmar Sigusch: In den 1980er und ­1990er Jahren kam es zu einer Renaissance der weiblichen Sexualität. Sie müssen bedenken, unser Bild der weiblichen Sexualität wurde vor 200 Jahren entworfen – und zwar in einer Männergesellschaft. Wenn man in die hohe Philosophie dieser Zeit schaut, dann findet man eine Geschlechtsmetaphysik, die aus heutiger Sicht zum Weglaufen ist. Die Frau ist darin nur die Ableitung, das Derivat des Mannes. Der Mann ist Geist und aktiv, die Frau ist Materie und passiv. Das sind alles Sätze aus der Philosophie der Zeit, von Kant bis Hegel.

Aber hatte sich dieses Bild nicht schon durch die 68er verändert?

Sigusch: Aber auch da kamen ja die Frauen kaum vor! Die Wortführer, das waren doch immer die Männer. Die Wende kam erst in der neosexuellen Revolution der 80er-Jahre. Damals wurden die Frauen selbstbewusste Sexualwesen. Aus den Jugendstudien wissen wir, dass heute die Mädchen in den Beziehungen den Ton angeben. Und im höheren Alter, nach dem Klimakterium, sind Frauen sexuell oft aktiver als Männer: Diese leiden eher unter Erregungsproblemen oder gar Impotenz, und die älteren Frauen sind sexuell viel freier und leichter zu erregen. Plötzlich haben sie Orgasmen, die sie vorher gar nicht kannten!

Ein klassisches Vorurteil ist ja, dass Frauen feste Bindungen suchen und Männer Abenteuer.

Sigusch: Frauen gehen genauso häufig fremd wie die Männer, das belegen alle Zahlen. Aber gerade die Jüngeren beider Geschlechter suchen doch eine feste Beziehung in Treue und vor allem in Liebe. Die Liebe ist einzigartig. Deshalb wird sie praktiziert, auch mit den negativen Seiten: Spüre ich die Liebe nicht mehr, habe ich auch keine Verantwortung für die Beziehung und gehe einfach. Auch deshalb sind unsere Beziehungen heute von kürzerer Dauer als früher.

Wie können Paare es schaffen, über lange Jahre Lust aufeinander zu haben?

Sigusch: Nach meiner Erfahrung als Paartherapeut schaffen dies vor allem Paare, die erotisch verbunden sind durch eine im alten Sinne „perverse“, fetischistische Vorliebe. Die sie am besten gar nicht reflektieren, denn damit kann man das Ganze zerstören. In einem Fall war dies zum Beispiel die Form der Schulter des Mannes – da muss man erst einmal drauf kommen! So etwas ist einmalig. Allein der Anblick dieser Schulter löste die Erregung der Frau aus.

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Die wenigsten Frauen würden zugeben, ganz gerne mal einen Pornofilm anzuschauen – aber vielleicht schwindeln sie nur?

Sigusch: Frauen werden von Pornofilmen genauso erregt wie Männer! Dazu habe ich mit dem Hamburger Institut für Sexualforschung nach der 68er Revolte eine Studie geleitet, die vor allem die Amerikaner erschütterte – weil Kinsey noch das Gegenteil behauptet hatte. In der Befragung gaben auch die Frauen zu, erregt worden zu sein. Wobei man einschränken muss: Das waren Studentinnen, in der Zeit des großen Aufbruchs…

Auch Frauen stehen also heute zu ihren Bedürfnissen – aber nur Männer bezahlen für Sex. Wieso ist das so?

Sigusch: Es gibt einige, starke Frauen in leitenden Positionen, die die Dienste eines Callboy-Rings in Anspruch nehmen. Die bestellen sich einen Mann, möglichst mit Doktortitel, und mit dem treten sie als Paar auf. Das gibt es, ist aber sehr teuer. Grundsätzlich aber stimmt es: Das ganze Bordell- und Prostitutionswesen ist auf den Mann bezogen. Das ist ein altes Phänomen. Die Frauen möchten das mehrheitlich offenbar nicht, sonst wäre dieses Geschäftsmodell längst entwickelt worden. Die meisten Frauen haben davor einen Ekel oder doch wenigstens eine Scheu — immer noch.

Wenn Sie die Ergebnisse Ihres langen Forscherlebens auf den Punkt bringen müssten – wie lautete Ihr Fazit?

Sigusch: Keine Sexualität ist mit der eines anderen Menschen identisch. Deshalb sind alle Eingruppierungen immer problematisch. Freud sagte ja, wir sind alle bisexuell. Ich würde heute noch weiter gehen.

Nämlich?

Sigusch: Wir sind alle polysexuell. Wir können Lust daraus ziehen, sadomasochistische Sachen zu machen, wir können Voyeure sein oder uns, wie die Objektophilen, in Gegenstände verlieben. Man kann sogar anerkannterweise ohne Sex leben, wie die wachsende Gruppe der Asexuellen: die sich zwar Beziehungen wünschen, aber keine Sexualität. Das ist meiner Meinung nach eine der coolsten Entwicklungen!