Kabul. . 28 000 Menschen leben unter unvorstellbaren Bedingungen in der afghanischen Hauptstadt. Doch damit nicht genug: Bald könnten auch noch Krieg und Gewalt zurückkehren. Die Welthungerhilfe versucht vor Ort, Linderung zu schaffen.

Der Krieg steht für Tod, für Angst und Hass. Vor allem aber schreibt er unendlich viele Geschichten von Vertreibung und Entwurzelung. 30 Jahre Gewalt und Krieg haben aus den Afghanen ein Volk von Flüchtlingen gemacht. Drei von vier Bewohnern dieses Landes wissen, was es heißt, ein Zuhause aufgeben zu müssen. Und weil der Krieg noch nicht zu Ende ist, gehen diese Geschichten weiter.

Sie spielen an Orten, die uns erschaudern lassen. Darul-Aman-Camp ist solch ein Ort. Er liegt mitten in Kabul, mitten in einer Stadt, die bemüht ist, wieder zu einer lange vermissten Normalität zurück zu finden. Aber in den Flüchtlings-Lagern in dieser Stadt ist noch gar nichts normal.

"Ich lebe ein dramatisches Leben"

Ali Janat Gul (40) ist der „Camp Leader“. Eine würdige Erscheinung, die in jeden Abenteuerfilm passen würde: dichter, schwarzer Vollbart; gütige Augen; große, kräftige Hände. „Paradiesblume“ lautet der Name des Ersten Bürgers in diesem Lager. Sein Name ist der größtmögliche Kontrast zu der Umgebung, in der sich Ali Janat Gul täglich bewegt. Das Lager gehört zu den so genannten „Kabul Informal Settlements“ (KIS).

4700 Familien leben in der Metropole derzeit in solchen „wilden“ Siedlungen. Das sind rund 28 000 Menschen. In dem ersten Satz, den Ali kurz nach der Begrüßung zu mir sagt, dürfte sich jeder dieser Lager-Bewohner wiedererkennen: „Ich lebe ein dramatisches Leben.“ Ein wenig leiser fügt er hinzu: „Ich zweifele oft an mir selbst“.

Regenschauer haben den Boden des Darul-Aman-Camps in eine Rutschbahn verwandelt. Frauen, Männer, Kinder sinken knöcheltief im Schlamm ein, jeder Schritt lässt den Untergrund schmatzen. Tropfen prasseln auf die Zeltplanen und weichen die Behausungen der Camp-Bewohner auf. Wie ein düsteres Geisterschloss ragt die Ruine des Königspalastes Darul-Aman hinter der Lager-Mauer in den grauen Nachmittagshimmel. So groß wie der Berliner Reichstag, so mürbe wie Afghanistan nach 30 Jahren Krieg.

Die Familie flüchtete nach Pakistan

Ali Janat Gul hat mich in die „gute Stube“ des Lagers eingeladen: ein blauer Metall-Container, ausgelegt mit einem roten Teppich, den, wie es hier Sitte ist, niemand mit Schuhen betreten darf. Fünf Männer sitzen im Schneidersitz in der Runde, vor ihnen dampft grüner Tee in Glasbechern. Die Journalistin Dorothee von Walderdorff, mit der ich auf Einladung der Welthungerhilfe dieses Lager besuche, unterhält sich derweil mit Frauen und Mädchen. Männer reden mit Männern. Frauen reden mit Frauen. Das sind die uralten Regeln hier.

Afghanistan-DokumenteAli ist kein geübter Redner. Er wägt die wenigen Worte sorgfältig ab, die sein Leben zusammenfassen: „Als die Sowjets hier in Kabul einmarschierten, war ich noch ein Kind. Der Widerstand gegen die Russen war groß, der Alltag wurde immer unerträglicher, und meine Familie flüchtete 1981 nach Pakistan.

Als Präsident Karsai die Macht in Afghanistan bekam, vertrieben uns die Pakistaner. In unserer alten Heimat hatten wir keinen Besitz mehr, und jetzt ist dieses Lager unser Zuhause.“ Ein Ort ohne sauberes Wasser, ohne Strom und Gas, ohne Kanalisation. Ein Ort wie eine Endstation. Für 74 Familien.

Vor dem geisterhaft anmutenden Königspalast Darul-Aman spielen Kinder im Schlamm des Flüchtlingslagers.
Vor dem geisterhaft anmutenden Königspalast Darul-Aman spielen Kinder im Schlamm des Flüchtlingslagers.

Die Welthungerhilfe kümmert sich um diese Vertriebenen, der afghanische Staat eher weniger. Der hat einen Haufen anderer Probleme und ist sehr damit beschäftigt, überhaupt erst ein Staat zu werden. Immerhin duldet das Verteidigungsministerium bisher diese Siedlung auf seinem Grund und Boden. „Und das Ministerium für ländliche Entwicklung hat Flüchtlingen, deren Status anerkannt ist, Land in Aussicht gestellt“, erklärt Camp-Leader Ali. Ob er daran glaube? Ali nippt an seinem Tee und lächelt. Kein Kommentar. Die fünf Männer in der Runde haben viel zu viel erlebt, um an Versprechen zu glauben. Sie richten ihre Hoffnung, wie so ziemlich jeder Afghane, zunächst auf Allah. „Im Namen des barmherzigen Gottes“ hat jemand auf die Container-Wand gekritzelt. Damit die Kinder, die sich in dem Eisenkasten zum Spielen und Malen treffen, früh lernen, auf wen nach Ansicht der Lager-Bewohner Verlass ist.

"Ganz Afghanistan ist in Bewegung" 

Fürs Spielen und Malen ist wenig Gelegenheit. Große und Kleine sind hauptsächlich mit dem Überleben beschäftigt. Sie suchen Zweige und Papier auf der Straße, um Feuer zu machen oder verdienen sich mit dem Sammeln leerer Coladosen etwas Geld.

Mit den Händen von Kabul nach Pakistan getragen

Zu den Männern, die auf dem roten Teppich hocken, gehört Hassan Khan. Der 70-Jährige hat seinen Leib in eine löchrige braune Decke eingewickelt. Hassan Khan zeigt mir seine rauen Hände. „Mit diesen Händen“, sagt er, „habe ich meinen Sohn Abdul, als er ein kleiner Junge war, von Kabul nach Pakistan getragen.“ Eine lange Geschichte wäre da zu erzählen, deutet der alte Herr an. An seiner Seite, auch in eine Decke eingewickelt, sitzt der, von dem gerade die Rede ist: Abdul Raouf, heute ein erwachsener Mann und Familienvater, ausgestattet, wie alle hier, mit dem Etikett „Displaced Person“. Das ist ein Mensch, der nicht wohnen darf, wo er hingehört.

Das Lagerleben zehrt an den Abwehrkräften

„Ganz Afghanistan ist in Bewegung“, sagt Klaus Lohmann, Regionalkoordinator der Welthungerhilfe. Binnenflüchtlinge irren zwischen Provinzen hin und her. Dazu kommen zigtausende Rückkehrer aus Pakistan. „Kabul wurde für 700 000 Einwohner konzipiert“, so Lohmann, „heute leben hier vier Millionen Menschen“.

Die deutschen Entwicklungshelfer und ihre afghanischen Mitarbeiter lindern die Not der Flüchtlinge in den 50 informellen Lagern in Kabul. Sie kümmern sich darum, dass diese bedürftigsten Menschen in ganz Afghanistan etwas zu essen und Hygiene bekommen.

Vor allem aber bieten sie medizinische Hilfe an. Denn einen Arzt könnten Männer wie Hassan Khan und Ali Janat Gul niemals bezahlen. Dabei zehrt das Lagerleben an den Abwehrkräften. Sie haben Durchfälle, Infektionen. Die Lebenserwartung in Afghanistan beträgt 45 Jahre. Ali Janat Gul, der 40-Jährige, gehört hier zu den alten Männern. Hassan Khan ist ein Greis.

Wer wie sie ein paar Mal alles verloren hat, neigt nicht zum Optimismus. Ende 2014 werden sich die ausländischen Truppen aus Afghanistan verabschieden. Vor dem Lager gibt es nicht wenige Kabuler, die an die eigene Stärke im Ringen mit den Extremisten glauben. Doch Ali sieht schwarz: „2014 kommt der Krieg zurück. Die Taliban werden Kabul im Sturm nehmen wollen.“ Hassan Khan legt die Weisheit eines weißhaarigen Mannes in seine Worte: „Wir werden Zeugen neuer Konflikte sein.“ Sie glauben, die Gewalt, die sie verfolgt, ist noch längst nicht vorbei.

  • Spendenkonto Welthungerhilfe: Sparkasse Köln/Bonn, BLZ: 37050198, Kto.-Nr. 1115