Der Kölner Reggae-Musiker im Gespräch über politische Hoffnung, die neue Nüchternheit, das Schubladendenken – und natürlich sein sechstes Studio-Album: „New Day Dawn“. Für Gentleman bedeutet es, dass wir jeden Morgen neu entscheiden können.
Es ist eine Zeit der Umbrüche für Tilmann Otto alias Gentleman. Freunde sind gegangen, die Drogen ebenfalls, und nach der Ayurveda-Erfahrung ist vor dem sechsten Studio-Album „New Day Dawn“ (Universal, 12 oder 17 Songs in der Deluxe-Fassung), bedeutet: sich jeden Morgen neu entscheiden zu können. Wozu, darüber unterhielt der Kölner Reggae-Musiker sich mit Thomas Mader.
Wenn Du über die politische Situation in Deutschland und Europa nachdenkst, wirst Du dann nicht ungeduldig?
Gentleman: Doch, aber die Ungeduld kann ja ein Katalysator sein für Veränderungen. Ich glaube auch an eine gewisse Balance. Wir befinden uns im Jahr Zweitausenddreizehn – und wir sind immer noch da. Es gibt Strömungen, die uns positiv stimmen, die uns berechtigten Grund zur Hoffnung geben. Die Ignoranz und die Ungerechtigkeit auf der Welt wird es immer geben, solange der Mensch nicht ausgerottet ist. Aber ich finde, wir sind gar nicht so schlecht. Ich bin froh, im Jahr 2013 zu leben.
Welche Strömungen zum Beispiel?
Gentleman: Wo wir schon beim Strom sind, nehmen wir den Rhein. Man kann wieder drin schwimmen. Lachse finden sich drin. In den 80ern und 90ern war das undenkbar. Unser Bewusstsein für Mutter Erde verändert sich. Rauchen ist nicht mehr cool. Wir werden toleranter Randgruppen gegenüber. Manchmal ist es nur eine Entscheidung, aus welcher Perspektive Du die Sachen siehst. Mit jedem „New Day Dawn“: Jeden Morgen kann ich mich bewusst dafür entscheiden, aus welcher Perspektive ich mir die Welt angucke. So gesehen werde ich nicht ungeduldig. Und trotzdem gucke ich mir in Deutschland so manche Debatten an und denke mir – ob es Schavans Doktortitel ist oder das Brüderle-Dekolleté – es nimmt hysterische Ausmaße an! Aber diese Ungeduld als Katalysator zu nehmen, um eben Veränderungen herbeizuführen, hat nur etwas Positives. Ich glaube auch, dass wir mit dem Netz neue Möglichkeiten haben. Die Herausforderung ist, Informationen richtig zu filtern.
Und trotzdem wählen Unmengen von Italienern erneut einen Berlusconi.
Gentleman: Na klar, das ist paradox. Aber das liegt ja daran, dass die Menschen politisch nicht interessiert sind, dass sie gelangweilt sind von der Politik. Da kommen wieder die Künstler ins Spiel. Wir können dazu aufrufen: Hey Mädels, Jungs, geht wählen! Wenn alle wählen gehen würden, wäre auch Berlusconi nicht wieder im Spiel. Es ist auch dieses politische Desinteresse, das mich stört in unserer Gesellschaft. Dieses Meckern über bestimmte Situationen, selber aber nichts zu verändern.
Was bedeutet „New Day Dawn“ für Dich?
Gentleman: Ich hab’ das Gefühl, ich verändere mich gerade. Und der Zeitgeist verändert sich auch. Mit jedem Tag fangen wir von vorne an. Und immer wieder kann ich mich dafür entscheiden, diese Perspektive zu wählen. Die es erträglicher macht. Das Album ist entstanden aus vielen persönlichen Schicksalen heraus. Mein bester Freund ist gestorben. Ich habe noch nie die Erfahrung gemacht, jemanden zu verlieren, der einem so nahe war. Die Person, die einem nie auf den Sack gegangen ist. Mit der man immer zusammen sein konnte, ohne dass es zu viel wurde. Der auch bei uns gewohnt hat und auf einmal nicht mehr da ist. Damit bin ich überhaupt nicht klargekommen. Mit diesem Gefühl, dass selbst die Zeit das nicht heilt. Und da war die Trennung von Menschen, von denen man glaubt, man würde ewig mit ihnen zusammenarbeiten – und auf einmal wird man menschlich so enttäuscht, dass man sich trennt. Und dieses radikale Aufräumen mit sich selbst. Das ist es, was ich gerade nachhole. Bücher lesen. Mir Zeit zu nehmen. Zuzuhören. Aus meinem Milieu herauszutreten.
Welche Bücher liest Du gerade?
Gentleman: Im Moment (lacht) … Rocko Schamoni. „Sternstunden der Bedeutungslosigkeit“. „1913“ fand ich auch gut, von Florian Ilies. Und Garcia Marquez hab’ ich gerade für mich entdeckt.
Sich jeden Tag einen neuen Sinn geben müssen – ich höre da eine existenzialistische Haltung heraus.
Gentleman: Ja, mir fehlen die existenziellen Fragen in der gesellschaftlichen Debatte. Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Was ist Gut und Böse, was ist Moral? Was treibt uns an? Was schreckt uns ab? Ich finde, die Gefahr ist auch, in seinem Umkreis, in seiner Szene stecken zu bleiben. Dieses Schubladendenken engt so unglaublich ein. Und durch das Netz wird es noch bestärkt: Nur deine Szene, nur dein Milieu ist das richtige. Diese Fälschung – in der Matrix zu leben –, das ist so präsent wie nie. Und das ist auch eine der größten Herausforderungen: aus dieser Matrix auszubrechen. Ich wollte mein Album zuerst „Escape into reality“ nennen. Weil die Realität eigentlich etwas total schönes ist und wir uns eine gekünstelte Welt aufbauen, die immer reeler wird.
Und was verändert sich in deinem Leben?
Gentleman: Meine Geheimratsecken werden immer intensiver (lacht). Aber: Ich bin jetzt 38, und es fühlt sich super an. Ich nehme Sachen bewusster wahr. Da ist dieses Gefühl, lange in einem Hamsterrad gewesen zu sein. An ganz vielen Orten in der Welt gewesen zu sein und im Grunde nichts gesehen zu haben. Zum Beispiel hab’ ich eine große Südamerika-Tour gehabt und kann dir nichts von diesem Kontinent erzählen. Da fehlte die Wachsamkeit, um zu sagen: Jetzt mach ich mal ‘nen Spaziergang. Diese Verlangsamung, die ich mir auch für unsere Gesellschaft wünsche. Gestern habe ich Magnolien bestaunt. Ich weiß nicht, ob es an meinem Ayurveda-Urlaub lag. Jedenfalls fühle ich mich gerade wach.
Es steht wieder eine große Tour an. Was willst Du diesmal anders machen?
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Gentleman: Mich nicht so wegscheppern, wie ich es früher gemacht habe. Weniger saufen und nicht so viel kiffen. Ich will einfach nicht mehr in dieser Wolke sein. Und ich bin’s auch leid, übers Kiffen zu reden. Als ich früher mal aufgehört hatte, hab ich das immer auch nach außen verkündet, so Peter-Fox-mäßig: „Und sollte ich je wieder kiffen, hau’ ich mir ne Axt ins Bein.“ Und dann hab ich doch wieder sehr intensiv gedampft. Ich kiff’ halt im Moment nicht. Aber ich nehm’ mir auch das Recht, das vielleicht irgendwann wieder zu tun. Es ist okay, sich vielleicht mal wieder klein zu machen. Denn das ist für mich das Kiffen. Aber ich merke auch ganz klar, jetzt krieg ich einfach viel mehr mit. Ich hab noch nie eine Tour gehabt, die komplett clean war. Aber ich hab mir vorgenommen, die Städte bewusster wahrzunehmen, es gab eben auch Touren, wo ich mich so zurückgezogen hab, dass ich gar nicht mehr wusste, wo ich bin. Das ist ein bisschen schade, im Nachhinein.
Auf Jamaika wird Musik teils ganz anders produziert als in Deutschland. Deinen ersten Hit „Dem gone“ gibt es etwa in drei Versionen.
Gentleman: Ja, in Jamaika ist es üblich, dass mehrere Künstler ein Instrumentalstück, einen „Riddim“, besingen. Und ich find’ es gut. Es muss aber auch eine gewisse Exklusivität erhalten bleiben. Es gibt also einerseits Selections, Sammlungen mit zwanzig verschiedenen Versionen eines „Riddims“. Und es gibt andererseits Alben, auf denen exklusive Songs drauf sein müssen. Aber es ist eben Teil der Kultur.
Das heißt, es gibt nicht dieses Denken: Das ist das Original.
Gentleman: Das Original ist der Sänger. Der eine eigene Melodie entwickelt und einen eigenen Text schreibt. Und das Original ist auch der Riddim, der im Fall von „Dem gone“ von Bobby Digital produziert worden ist, und den auch Morgan Heritage und Sizzla besungen haben. Das eine schließt das andere ja nicht aus. Ich habe beim neuen Album auch zum ersten Mal selbst produziert. Nachdem es draußen ist, werde ich einige Riddims ebenfalls von anderen Leuten besingen lassen. Weil es sich einfach gegenseitig viel gibt.
Welche Lösung würdest Du dir wünschen für das Urheberrecht in Deutschland?
Gentleman: Dass das Urheberrecht wieder mehr Respekt kriegt. Dass eine Moral entsteht. Diese natürliche Moral: Wenn sich jemand hinsetzt und den Kopf zerbricht, um einen Song oder ein Buch zu schreiben, muss das geschützt werden.
Die Regeln sind okay, nur der Respekt fehlt?
Gentleman: Ich halte grundsätzlich nicht viel von Regeln. Ich wünsch’ mir immer, dass die Menschen von selbst drauf kommen. Musik ist ja etwas, was gebraucht wird für die Seele. In dem Moment, wo Urheberrecht permanent gestohlen wird, stirbt sie einfach aus. Wenn man es schaffen könnte, das Bewusstsein dafür zu schärfen, indem man drüber redet, ohne gleich die Strafen und die Regeln aufzudrängen, sind wir, glaube ich, auf dem richtigen Weg.