Dass wir unser Leben planen können, ist eine Illusion. Kaum meinen wir, alles im Griff zu haben, schon schlägt der Zufall zu. Doch kein Grund zur Sorge: Auch Umwege bringen uns ans Ziel.

Was ist Alexander Fleming wohl durch den Kopf gegangen, als er in den Glasschalen seines Londoner Labors Schimmel sah? Verdammt, wieder ist der Versuch missglückt! Der Bakteriologe hatte eine Kultur von Krankheitserregern angelegt. Er wollte wissen, wie er sie bekämpfen kann. Nun schien die Probe verdorben zu sein. Er wollte seinen vermeintlich fehlgeschlagenen Versuch schon wegwerfen. Doch dann schaute der Schotte noch einmal genauer hin. Zum Glück! Er erkannte, dass der Schimmelpilz die Bakterien getötet hatte. Durch diesen Zufall entdeckte Fleming 1928 den Stoff, der die Medizin revolutionieren sollte: Penicillin.

Wir glauben, unser Leben kontrollieren zu können. Doch unser Leben wird mehr vom Zufall beeinflusst, als wir glauben. Das Leben ist zu vielschichtig, als dass wir alle Eventualitäten berücksichtigen könnten. Schon im nächsten Moment kann alles anders sein. Das gilt für das private Leben ebenso wie für das berufliche, für die Wirtschaft und die Wissenschaft. Das Glück findet sich selten dort, wo wir es suchen. Doch manchmal findet uns das Glück, ohne dass wir es gesucht haben.

Zufall - Du durchkreuzt unsere Pläne

Wäre es nicht schön, wenn das Leben ein Sudoku wäre? Das beliebte Rätsel hat eine klare Aufgabenstellung und einfache Regeln: In jeder Reihe fehlt immer eine Zahl. Wir müssen uns zwar anstrengen und dürfen uns nicht ablenken lassen, damit wir die richtige Zahl finden. Doch am Ende gibt es für dieses Rätsel immer eine Lösung. Und auch genau nur diese eine. Für das Leben gilt das nicht. Da gibt es nicht nur einen Weg. Es gibt viele. Und auch nicht nur ein paar Regeln, sondern unzählige, die wir gar nicht alle im Blick behalten können. Und selbst, wenn wir meinen, ein paar dieser Regeln endlich begriffen zu haben, sind sie nicht mehr gültig. Weil sich Zeiten ändern, weil ein unerwartetes Ereignis eintritt. Und schon ist nichts mehr so wie es vorher war.

Das Leben ist unplanbar: John Lennon und seine Frau Yoko Ono.
Das Leben ist unplanbar: John Lennon und seine Frau Yoko Ono. © ddp

Andreas Brehme wäre nie der siegbringende Elfmeter im WM-Finale 1990 gegen Argentinien gelungen, wenn Lothar Matthäus zum Schuss angetreten wäre. Angeblich waren seine Lieblingstreter kaputt, die neuen Schuhe noch nicht eingelaufen. Julia Roberts wäre nie die berühmte „Pretty Woman“ geworden, wenn Sandra Bullock die Rolle nicht abgelehnt hätte. Und Daniel Radcliffe wäre niemals das Gesicht von Harry Potter geworden, wenn der Regisseur ihn nicht in einer Schule entdeckt hätte. „Leben ist das, was passiert, während du eifrig dabei bist, andere Pläne zu machen.“ John Lennon schrieb diese Zeile für seinen Song „Beautiful Boy“, die auf dem Album „Double Fantasy“ von 1980 zu hören ist. Im selben Jahr starb der frühere Beatles-Sänger und -Gitarrist durch die Kugel eines geistig verwirrten Attentäters.

Zufall - Du machst unser Leben unberechenbar 

Dass wir das Leben planen können, ist eine Illusion. Der Zufall kommt uns dazwischen. Nicht im Sinne eines statistisch echten Zufalls wie bei einem Wurf mit einem Würfel. Es sind die unerwarteten Ereignisse gemeint, die Umstände, die niemand bestimmen oder vorhersehen kann und die uns doch so sehr beeinflussen. Und das gilt nicht nur für die genannten Berühmtheiten, deren Biografien wir ja gerade deshalb so spannend finden, weil sie nicht geradlinig verlaufen sind.

Abiturienten mit mittelmäßigem Abschluss können doch noch ihr liebstes Fach studieren, weil sie auf der Warteliste nachgerückt sind. Andere kommen ihrem beruflichen Ziel näher, weil das Unternehmen mit Quereinsteigern gute Erfahrungen gemacht hat. Während andere keine Chance bekommen, weil ihre Bewerbung zufällig an einer bestimmten Stelle auf dem Schreibtisch des Personalchefs landet.

Zufall - Du beeinflusst, welchen Job wir bekommen

So ergab eine Studie der US-Forscher Uri Simonsohn und Francesca Gino, dass sich Personalverantwortliche nicht stets rational verhalten. Liegen mehrere gleich gute Bewerbungen vor, rechnen viele Personaler nach einer Weile automatisch mit einem schlechteren Kandidaten – und beurteilen den nächsten guten schlechter. Joanne K. Rowling musste ihr erstes Manuskript zigmal einsenden, bis ein Verlag endlich Harry Potter herausbrachte. Den anderen Lektoren zuvor gefiel die Geschichte entweder nicht oder sie hatten den Text nicht einmal gelesen.

Mehrere Studien belegen: Karrieren sind heute viel zufälliger als noch vor ein paar Jahrzehnten. Auf die Frage im Rahmen des soziooekonomischen Panels, ob sie ihre Stelle nach aktiver Suche oder eher aus Zufall bekommen haben, antworteten mehr als ein Drittel der Befragten: „Der Arbeitsplatz hat sich so ergeben.“

Zufall - Du lässt Managergehälter steigen

Weitere Studie zeigen, dass die als zu hoch kritisierten Gehälter der Manager wenig mit ihren Leistungen oder Fähigkeiten zu tun haben. Auch bei der Entlohnung spielt der Zufall eine Rolle. Ein Beispiel: Bei Ölkonzernen hängt das Managergehalt vom Ölpreis ab. Wenn der Ölpreis steigt, dann erhöhen sich auch die Gewinne des Unternehmens und damit das Gehalt in den Chefetagen, obwohl der einzelne Manager den Ölpreis überhaupt nicht beeinflussen kann.

Wie der Zufall zuschlägt, wissen wir – wenn überhaupt – erst, nachdem er zugeschlagen hat. Wenn uns auf der Autobahn ein Geisterfahrer entgegenkommt, wenn wir auf einer privaten Feier unseren künftigen Chef kennenlernen, wenn wir die große Liebe an der Supermarktkasse treffen. Erst mit dem Blick zurück meinen wir klar zu sehen. Dann erkennen wir Kausalketten. Wenn ich nicht das und das gemacht hätte, dann hätte ich auch nicht. . . Da fallen Sätze wie: „Ich weiß erst jetzt, für was es gut war.“

Zufall - Du lässt unsere Weisheiten wie Lügen aussehen

Aber nur im Nachhinein funktioniert das Suchen nach einer Ordnung. Wer daraus Regeln und Gesetze für die Zukunft ablesen will, bewegt sich auf unsicherem Terrain. Trotzdem lernen wir schon früh „Weisheiten“ über Zusammenhänge, über Ursache und Wirkung, an denen wir uns festhalten: Leistung zahlt sich aus, zu jedem Topf findet sich der passende Deckel, auf Regen folgt Sonnenschein. Es gibt in der Realität unzählige Beispiele, die das Gegenteil belegen, bei denen jemand einfach Glück – oder auch Pech – hatte. Da verdient im Freundeskreis ausgerechnet derjenige das meiste Geld, der in seiner Schulzeit zwei Ehrenrunden gedreht hat – er war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Während ein anderer mit den Bestnoten, Praktika, und einem „vernünftigen“ BWL-Abschluss mit 40 entlassen wird – der Leistungsträger war der Firma zu teuer geworden. Ein Umstand, den er nicht hätte vorhersehen können.

Zufall - Du verunsicherst uns sehr 

Trotzdem halten wir an den vermeintlich weisen Sätzen fest, die die „Ausnahmen“ ausklammern. „Wir reagieren nicht auf Wahrscheinlichkeiten, sondern auf ihre Einschätzung durch die Gesellschaft“, schreibt der Statistiker Nassim Nicholas Taleb in seinem Buch „Narren des Zufalls“ (btb, 352 S., 9,99 €, Neuerscheinung: 9. April). Und warum tun wir das? Weil unser Gehirn Verallgemeinerungen besser speichert als eine Sammlung von Einzelheiten. Und weil es uns ein trügerisches Gefühl von Sicherheit, von Kontrolle gibt.

Nun sollten wir natürlich nicht im Umkehrschluss nur auf den Zufall setzen, in ihm ein Erfolgsmuster suchen. Schließlich ist nicht alles Zufall, nur eben vieles zufälliger als wir glauben. Oder wie es einst Erich Kästner formulierte: „Nicht jeder, der nach Indien fährt, entdeckt Amerika.“ Auch heute noch hat der BWLer bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt als sein Mitschüler mit den Ehrenrunden. Aber es garantiert ihm keiner mehr Ansehen und hohes Einkommen. Natürlich trifft jemand seinen Traumpartner eher, wenn er ausgeht als wenn er zuhause vor dem Fernseher sitzt. Aber eine Garantie bekommt er auch dafür nicht. Und erst recht keine mehr „bis dass der Tod uns scheidet“.

Zufall – Du lässt uns zweifeln

Wir können unser Leben nur begrenzt steuern. Doch wenn wir das nicht sehen, wenn wir den Zufall gänzlich aus dem Blick lassen, hat das Folgen. Menschen sitzen beim Therapeuten, weil sie meinen, es nicht geschafft zu haben. Sie quälen sich mit Fragen: Hätte ich mich mehr anstrengen müssen? Habe ich zu hohe Erwartungen? Sie glauben, selbst schuld zu sein und hadern mit ihrem Schicksal.

Aber nicht nur im Privaten ist der Glaube an Gesetzmäßigkeiten hinderlich. Taleb erklärt dies in seinem Buch „Narren des Zufalls“. Der Autor arbeitete zwanzig Jahre lang als Börsenhändler. Heute wissen wir, dass die Finanzkrise ein weiteres gutes Beispiel dafür ist, wie wenige Menschen mit ihrem Handeln das Leben von vielen Menschen beeinflussen, die dem machtlos ausgeliefert sind . . .

Mehr als eine zufällige Laune der Natur? Ein schwarzer Schwan.
Mehr als eine zufällige Laune der Natur? Ein schwarzer Schwan. © TA

Taleb widmet sich den seltenen Ereignissen, den schwarzen Schwänen unter all den weißen, wie er es auch in seinem Bestseller „Der schwarze Schwan“ beschreibt. Es sei wichtig, die „Ausreißer“ nicht außer Acht zu lassen. Das gelte für die Börse, aber nicht nur: „Viele Wissenschaftler erkannten den Treibhauseffekt in der Frühphase nicht, weil sie in ihrer Stichprobe keine Temperaturspitzen berücksichtigten in dem Glauben, dass solche Ausschläge nicht wieder vorkommen würden.“

Wenn wir jedoch den Zufall zulassen, ergeben sich plötzlich ganz neue Möglichkeiten. Die Entdeckung Amerikas ist eines der berühmtesten Beispiele, aber auch der Röntgenstrahlen, des Sekundenklebers. Serendipitätsprinzip nennt man dieses Phänomen, bei denen Dinge gefunden werden, nach denen man ursprünglich gar nicht gesucht hatte. Der Begriff „Serendipität“, den der Soziologe Robert K. Merton verbreitete, geht vermutlich auf ein persisches Märchen zurück, das genau davon handelt: von unerwarteten Entdeckungen.

Zufall - Du machst uns zu Entdeckern 

Diese „Entdecker“ haben ihr Ziel für einen Moment aus den Augen gelassen – und waren deshalb erfolgreich. Wie wirkungsvoll dieses Vorgehen selbst für die Wirtschaft ist, veranschaulicht John Kay in seinem Buch „Obliquity. Die Kunst des Umwegs – oder wie man am besten sein Ziel erreicht“ (dtv, 218 S., 14,90 €). Kay, der Ökonomie in Oxford lehrte, kommt zu dem Schluss: „Glück erreicht man nicht durch das Streben nach Glück. Die profitabelsten Unternehmen sind nicht die gewinnorientiertesten. Die reichsten Leute sind nicht die geldgierigsten.“ So hat Bill Gates vermutlich mehr Interesse an Computern als am schnöden Mammon. Die Planwirtschaft ist zum Scheitern verurteilt, weil sie im Gegensatz zur Marktwirtschaft den Zufall ausklammert. Und die Funktionalität von Plattenbauten hindert sie am Funktionieren.

Zufall - Du machst unser Leben spannend

Wer zu genau sein Ziel verfolgt, kommt dort womöglich nicht an. Sein Handlungsspielraum ist viel zu klein geworden.

Das Leben ist zum Glück kein Sudoku. Wir müssen nicht an einer Lösung arbeiten, uns stehen viele, auch unerwartete Wege offen. Für ein Sudoku könnten wir ein Computerprogramm entwickeln, das uns die Lösungszahlen in Sekunden verrät. Dann bräuchten wir gar nicht weiterrätseln. Aber das will ja keiner, weil uns dadurch die Freude daran verloren ginge. Die meisten wollen das Rätsel, ihr Lebensrätsel, selbst lösen. Auch wenn der Zufall einen durchschüttelt und eine neue Richtung vorgibt. Wer weiß, wohin uns dieser Weg führt, wer weiß, was wir dort Neues finden.

Zufall - Du rettest sogar Menschenleben

Im Februar 1941 schnitt sich ein 43-jähriger Polizist in London mit dem Rasiermesser. Bakterien drangen in die Wunde am Mund ein. Blutvergiftung! Die Ärzte schienen ihm nicht mehr helfen zu können. Der Tod war nur noch wenige Stunden entfernt. Doch kurz zuvor war es den Wissenschaftlern Howard Florey und Ernst Chain gelungen, das von Alexander Fleming entdeckte Penicillin zu isolieren. Ein Zufall. Mit diesem Medikament erholte sich der Kranke, das Fieber fiel.

Der Polizist lebte einen Monat länger als erwartet. Dann neigte sich der Penicillin-Vorrat dem Ende zu.

Kurze Zeit später gelang es den Forschern, mit dem weltweit ersten Antibiotikum Menschen mit bakteriellen Infektionen zu heilen. Fleming sowie Florey und Chain wurden 1945 für die Entdeckung des Penicillins ausgezeichnet: mit dem Nobelpreis für Medizin.