Essen. . Die geistige Mutter von Pippi Langstrumpf, Michel aus Lönneberga und Ronja Räubertochter starb am 28. Januar 2002. Zehn Jahre später ist der Einfluss von Astrid Lindgren auf die Deutschen ungebrochen. Die Autorin verwandelte Schweden in ein Sehnsuchtsland.

Als Ronja Räubertochter zum ersten Mal die Mattisburg verlässt, stockt ihr der Atem – so wunderschön ist die Natur. Da möchte man die Zeit stillstehen lassen. Ähnlich denkt wohl auch Pippi Langstrumpf in der Villa Kunterbunt, als sie ihren Freunden Tommy und Annika „Krummelus“ gibt: Pillen gegen das Großwerden. Die liebenswerten Figuren der Astrid Lindgren – wer kennt sie nicht? Und gerade die Menschen in Deutschland sind Experten von Michel aus Lönneberga oder Karlsson vom Dach. Denn außerhalb Schwedens werden ihre Geschichten nirgendwo sonst so viel gelesen.

Die Autorin hat mit ihren Büchern und Filmen das Schwedenbild der Deutschen wie keine andere geprägt, selbst Königin Silvia oder die Band ABBA hatten nicht solch einen großen Einfluss. Glückliche Kindheit und klare Seen, rote Holzhäuschen und endlose Wälder – diese verklärte Sicht hat im Schwedischen sogar einen Namen: Bullerbysyndromet, das Bullerbü-Syndrom.

Mit Bezug auf Lindgrens Buch „Wir Kinder aus Bullerbü“ formte Berthold Franke diesen Begriff. Der ehemalige Direktor des Goethe-Instituts in Stockholm beschreibt damit den Wunsch der Deutschen nach einem besseren Land mit unberührter Natur und einem gefahrlosen, harmonischen Leben wie im heilen Schweden. „Aber Schweden ist nicht so“, sagt Karin Hoff. Die Direktorin des Skandinavischen Seminars der Universität Göttingen erinnert daran, dass Astrid Lindgren selbst das kleine Vimmerby verließ, als sie ein Kind erwartete und den Vater nicht heiraten wollte. Sie arbeitete als Sekretärin in Stockholm, während ihr Sohn zunächst bei einer dänischen Pflegefamilie in Kopenhagen aufwuchs.

Karin Hoff, Direktorin des Skandinavischen Seminars der Universität Göttingen. Foto: privat
Karin Hoff, Direktorin des Skandinavischen Seminars der Universität Göttingen. Foto: privat © privat

Die Geschichten, die in Stockholms Schärenlandschaft spielen („Ferien auf Saltkrokan“) oder auf dem Dorf in der Provinz Småland („Michel bringt die Welt in Ordnung“) wurden Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre verfilmt. „Zur gleichen Zeit entstanden in Schweden die ersten Trabantenstädte“, sagt Karin Hoff. Vororte, in denen der Wohlfahrtsstaat ein besseres Wohnen ermöglichen wollte. Das Ergebnis war oft: Ghettoisierung, hoher Ausländeranteil, soziale Probleme . . . Das kennt man aus Deutschland, Großbritannien, Frankreich . . .

Bullerbü sieht anders aus.

Trotzdem reisen die Deutschen mit ihrem idealisierten Bild im Kopf und dem Wunsch nach Harmonie im Herzen in den Norden. Auch darin sind sie spitze – nur aus Norwegen kommen noch mehr Übernachtungsgäste. Und die Schweden machen es ihnen leicht, die ersehnte Lindgren-Welt auch zu leben: Sie vermieten rote Holzhäuschen in der schönen Natur, von der Schweden auch heute mehr zu bieten hat als Deutschland. Sie locken die Touristen in Freizeitparks, in denen pippigleiche Haarschöpfe an das Glück aus Kindheitstagen erinnern – „Ich mach’ mir die Welt wiedewiede wie sie mir gefällt“.

Spielen in Småland

Und auch die Werbung spielt mit dem Klischee: IKEA will mit Regalen und Vorhängen die heimelige Lindgren-Welt nach Deutschland bringen. Im Kinderparadies „Småland“ spielen Jungen und Mädchen, die von Geburt an mit ihrem Namen in die Lindgren-Welt kamen: Lotta, Lisa, Lasse oder Michel. Wobei der Michel im Original eigentlich Emil heißt. Er sollte in Deutschland nicht Kästners „Emil und die Detektive“ in die Quere kommen.

Aber hat Lindgren diese Bilderbuchromantik wirklich gewollt? Die Geschichte über die Brüder Löwenherz handelt vom Tod. Pippi Langstrumpf, „im Original noch frecher als im Deutschen“, so Hoff, galt als unerziehbar. Damit löste Lindgren Debatten über die richtige Pädagogik aus. Die Autorin war nicht naiv. Sie war meinungsbildend. Sie kritisierte den Steuerstaat und sprach sich gegen Kernkraft aus. Und immer wieder setzte sie sich für die Rechte der Kinder ein.

Als das Böse ins Paradies kam

Lindgren hat sich mit ihren Bullerbü-Büchern in ihre eigene – wie sie selbst sagte – glückliche Kindheit zurückgeschrieben. Auch sie schien als Erwachsene eine Insel der Sorglosigkeit zu brauchen, nach der sich so viele Deutsche sehnen und die sie in Schweden suchen. Das hat sich auch nicht geändert, als das Böse ins Paradies zog, mit den düsteren Büchern von Henning Mankell und Stieg Larsson.

Und so schalten heute viele ein, bei der „Rosamunde Pilcher des Nordens“. Die Deutsche Christiane Sadlo, besser bekannt unter ihrem Pseudonym Inga Lindström, malt das heile Bild von Schweden weiter und träumt mit den Erwachsenen: von Bullerbü.