Die begnadete schwedische Songwriterin Anna Ternheim hat auf ihren neuen Album „The Night Visitor“ zu sich selbst gefunden. Dazu musste sie sich allerdings erst eine Auszeit nehmen. Ruhe fand sie ausgerechnet in der trubeligsten Stadt der Welt, in New York.

Wenn man nur lange genug erfolgreich mit seiner Musik ist und sich nur mit ihr beschäftigt, gelangt man wie in jedem Beruf an den Punkt, an dem man keine neuen Ideen mehr hat. Dann muss man einfach mal zurückkehren ins normale Leben. Für die schwedische Songschreiberin Anna Ternheim war dieser Moment nach dem letzten, sehr erfolgreichen Album „Leaving On A Mayday“ gekommen, auf dem sie mit opulenten Arrangements hinreißende skandinavische Folksongs versammelt hatte. „Ich war schon sehr ausgelaugt nach der Tour. Und ich trug keine neuen Songs in mir. Ich habe versucht zu schreiben, aber es wurde nichts Anständiges daraus. Also habe ich ein bisschen gelebt“, sagt sie und lächelt bezaubernd.

Fast klingt ihr neues Album nun, als hätte sie eine Kehrtwende vollzogen: Alle Songs sind nicht mehr orchestriert, sondern stellen die Gitarre in den Mittelpunkt, sie sind teils von einer klassischen Country-Besetzung inklusive Fiedel begleitet. Und tragen doch Anna Ternheims Handschrift. „Ich bin sicher, ,The Night Visitor’ ist etwas amerikanischer als seine Vorgänger, aber es klingt definitiv nicht nach Nashville.“

Das mag daran liegen, dass Anna Ternheim die Songs schon fertig geschrieben hatte, als sie in der Country-Hochburg ankam. Geschrieben hatte sie alles in New York. Was umso erstaunlicher wirkt, weil sie alle so ruhig und verträumt klingen. „Man denkt immer, es sei nicht möglich, in so einer Stadt Ruhe zu finden. Aber das Gegenteil war der Fall. Ich habe immer Einsamkeit gebraucht, um etwas zustande zu bringen. Und New York ist dafür ideal. Man kann sich seine kleine Nische suchen. Man hat das Leben vor der Haustüre, aber man kann die Türe schließen und Ruhe haben“, sagt sie.

Mit Cashs Gefährten in Nashville

Für die Aufnahmen begab sie sich mit Cash-erfahrenen Musikern wie Jack Clement und Matt Sweeney nach Nashville. „Ich wusste so gut wie nichts über diese Stadt. Und das war ein Glück, denn diese Männer, die ja selbst Legenden sind, haben einfach mit mir an den Songs gearbeitet.“

In sich gekehrt: Anna Ternheim. Foto: Universal
In sich gekehrt: Anna Ternheim. Foto: Universal © Universal

Tatsächlich steht niemand anders im Mittelpunkt des Albums als Anna Ternheims Stimme und ihre Gitarre. Sie sah es selbst als notwendig an, ihr Spiel zu verbessern. Allerdings aus einem Grund, den man zuerst nicht vermutet: „Es geht bei meinem Gitarrenspiel ja nicht in erster Linie darum, komplizierte Stücke spielen zu können. Für meine Zwecke reichte auch das, was ich vorher konnte. Ich habe mir eben alles selbst beigebracht und mich nie sehr um Technik gekümmert. Wichtig war mir aber: Wenn man ein Instrument richtig beherrscht, dann hat man viel mehr künstlerische Freiheit. Man lernt, sich müheloser auszudrücken.“

Jedes Album eine Momentaufnahme

Dennoch muss es einen Punkt gegeben haben, an dem Ternheim sich entschlossen hat, ihren Sound auf eine Besetzung zu reduzieren, die man leicht als Unplugged-Konzert auf die Bühne bringen könnte. „Ich habe bis jetzt noch nie etwas bereut, was ich aufgenommen habe. Im Gegenteil: Jedes meiner Alben ist eine Momentaufnahme. Man muss seinen Impulsen folgen – zumindest ist das alles, was ich tun kann. Ich weiß nicht, wo mich das beim nächsten Mal hinführt.“

Jeder Morgen birgt ein Versprechen

Dieser Prozess des Suchens hat sich in einem Song niedergeschlagen. „Walking Aimlessly“ beschreibt die Bemühung, den Kopf frei zu bekommen. „Es gibt eine geistige und eine körperliche Seite dieses Liedes. Eine Menge guter Sachen passieren, wenn man spazieren geht. Ich liebe zum Beispiel den frühen Morgen, er gibt einem ein Versprechen, eine Verheißung. Man geht raus, die Luft ist frisch, der Tag hat noch nicht begonnen. Es ist das Gefühl, das man hat, wenn man sieben Jahre alt ist. Wenn man nicht müde vom Rennen wird oder vom Treppensteigen. Das sind die Momente, in denen man das Leben spürt.“

Zu diesem Gefühl ist Anna Ternheim mit „The Night Visitor“ zurückgekehrt. Und sie hat sich neu erfunden, ohne es zu wollen. Manchmal ist es eben nützlich, wenn einem Künstler das Leben dazwischen kommt.

  • Anna Ternheim: The Night Visitor (Stockholm Rec./Universal). Live: 11.2.2012, Köln