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Zwischen Tränen und Triumphen: Wenn am 14. Mai der Eurovision Song Contest übertragen wird, sitzt Europa einig vorm Fernseher. Hier ein Streifzug durch die Geschichte – und ein Blick in die Gegenwart.
Als er kürzlich, rein dienstlich, genauer hinhörte, fiel Thomas Mania etwas auf: „Früher“, meldet der Kurator des Rock- und Popmuseums nun nüchtern, „waren wirkliche Stars dabei.“ Womit vieles gesagt ist über ein gutes halbes Jahrhundert „Eurovision Song Contest“, aber noch nicht alles. Und das wäre auch zu schade. Da steckt Musik drin!
Die 50er-Jahre
Tanzen verboten! So ist das in den 50ern, als Lys Assia, die eigentlich Rosa Mina heißt, im Jahr sechs des Jahrzehnts Europa einen „Refrain“ schenkt und der ach so neutralen Schweiz den ersten triumphalen Sieg bei diesem neuen Wettbewerb. Ein Orchester, ein Dirigent und am Bühnenrand ein kurzbehostes Kind mit Blümchen bilden die ganze (schwarz-weiße) Fernseh-Kulisse, artig, züchtig, steif. Assia singt übrigens immer noch, was von ihrem deutschen Rivalen nicht überliefert werden kann: Walter Andreas Schwarz starb schon 1992, sein einziger Erfolg ist keiner geworden. „Im Wartesaal zum großen Glück“ soll damals Silber gewonnen haben, nur hat das vor 55 Jahren noch niemand verraten. Und auch der zweite deutsche Beitrag, ein gewisser Freddy Quinn mit „So geht das jede Nacht“ kann offenbar nicht genug punkten.
Schon einmal tritt in jenem Jahrzehnt eine Deutsche doppelt an und auf: Margot Hielscher versucht es mit „Telefon, Telefon“, aber auch „Für zwei Groschen Musik“ vermag die Jury nicht zu überzeugen.
Die 60er-Jahre
Es folgt ein auffallend französisches Jahrzehnt, jedenfalls klingt es so: Aber nur die Siegertitel „Un Premier Amour“ (1962) und „Un Jour, Un Enfant“ (1969) kommen wirklich von der Seine; „Poupée De Cire, Poupée De Son“, jener anzügliche Chanson aus der Feder Gainsbourgs und dem Hals France Galls’ (die später noch berühmter wurde mit „Zwei Apfelsinen im Haar“) sowie „Nous Les Amoureux“ gewinnen für Luxemburg. Und „Merci Chérie“, nanu, das singt 1966 Udo Jürgens, allerdings für Österreich. Es gibt ein Foto am weißen Flügel, dahinter die Punktetafel: noch null. Zwei Jahre später soll sich Cliff Richard auf dem Klo eingeschlossen haben, weil ihm angeblich nur ein Zähler fehlte zum Sieg. Die 60er sind die „Swinging Sixties“, erleben beim Grand Prix aber auch Conny Froboess („Zwei kleine Italiener“), zudem Sandie Shaw’s „Puppet On A String“ und ‘69 gleich vier punktgleiche Gewinner.
Die 70er-Jahre
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Die 70er sind bunt und wild, auch beim Song Contest. Der (über-)erlebt erste Boykotte gegen Wertungssystem, Gegner und angebliche Plagiate, den Aufstieg der Popgruppe Abba („Waterloo“) und 1977 das Gebot, nur noch in der Landessprache zu singen. Denn Abba, die waren „weiß Gott überhaupt nicht schwedisch“, sagt Thomas Mania, der beim Stöbern im Material auch sonst selten Folklore entdecken konnte: Alles sei „positiv austauschbar“.
Deutschland versucht es in jenen Jahren dreimal mit Katja Ebstein, „Wunder gibt es immer wieder“, sie treten aber nicht ein. 1976 wird „Save Your Kisses For Me“ der meistverkaufte Grand-Prix-Hit, 1979 „Dschinghis Khan“ die deutsche Nummer Eins in Israel und „Halleluja“ die europäische Nummer Eins aus Israel. Auf der Bühne: Dana, Severine oder Vicky Leandros, wobei es darum eigentlich gar nicht geht – der Song Contest ist ein Komponisten-Wettbewerb. Aber das interessiert außer Ralph Siegel (17 Teilnahmen!) niemanden.
Die 80er-Jahre
Ach, die 80er. Gar nicht denkbar ohne unsere Nicole mit ihrem weißen Krägelchen und dem ebenso jungfräulichen Liedchen, und auch sonst beherrschen die Bühne die schnulzigen Schluchzer. Nino de Angelo. Umberto Tozzi. Celine Dion. Und zweimal steht Johnny Logan ganz oben (ein drittes Mal wird folgen). Es ist die Zeit der Stehbörtchen, Bundfalten und Vokuhilas, dahinter verblasst alles andere. Jedenfalls kann sich von soliden mindestens zehn Millionen deutschen Zuschauern kaum noch einer erinnern.
Die 90er-Jahre
Wussten Sie, dass auch Dieter Bohlen mitgeschrieben hat an der Grand Prix-Geschichte? Für Deutschland, Österreich und Rumänien! Hat aber nichts genutzt. Die Gunst des deutschen Publikums sackt in den 90ern auf kaum mehr als drei zählbare Millionen, offenbar schämt man sich für die Münchner Freiheit. Oder für Bianca Shomburg, für Stone und Stone oder Leon, der es erst gar nicht ins Finale schafft. Kennen Sie nicht? „Douze Points“ sind längst die harte Währung des Wettbewerbs, Deutschland kann davon nur träumen. Dann naht die Rettung in Unform von Guildo („ . . . hat euch lieb“), mit ihm kommt wenigstens der Käseigel zurück. Der Contest wird Kult, auch ohne Kultur.
Das neue Jahrtausend
Zu Beginn des neuen Jahrtausends ist die Technik des Zuschauer-Votings auch bei den letzten Ostblockern angekommen; fortan schieben sie sich gegenseitig die Punkte zu. Es siegen Estland, Lettland, Ukraine, Serbien, Russland – ist das etwa Demokratie? Erleichtert erinnern wir uns an Alexander Rybak, sein norwegisches Märchen mit Geige und den größten Vorsprung aller Zeiten. Peinlich berührt an den 23. Platz für die „No Angels“. Und amüsiert an Lordi, die Hardrocker aus Finnland. Geht jetzt alles beim Grand Prix? Wer allerdings Stefan Raabs „Wadde Hadde Dudde Da“ für den textlichen Tiefpunkt aller Zeiten hielt, dem seien diese Titel um die Ohren gehauen, die alle gewannen: „Ding A-Dong“ (1975, Niederlande), „Diggi-Loo Diggi-Ley“ (1984, Schweden), „La La La“ (1968, Spanien), „Boom Bang-A-Bang“ (1969, Großbritannien). Kleiner Auszug aus dem Programm 2011? „Boom Boom“, „Haba Haba“ oder „Ding Dong“. Letzteres übrigens interpretiert von „Dana International“, die 1998 für Israel siegte und ursprünglich ein Mann war.
Heute
Dana hieß 1970 auch die irische Interpretin des Siegertitels „All Kinds of Everything“, und vielleicht ist das eine passende Überschrift für 55 Jahre Eurovision Song Contest. „Von allem was“, könnte man übersetzen und muss nicht mal beweinen, dass der Wettbewerb „von ernsterer Muse zum seichten Schlager abdriftete“, wie Thomas Mania formuliert, der übrigens ein studierter Volkskundler ist.
Mit Lenas Liedern steht Deutschland nun im zweiten Jahr im Mittelpunkt, und sei sie auch nur ein eigens dafür gemachter Star. „Stürme im Goldfischglas“, schreibt der Musikjournalist Max Dax, sind die Auftritte angeblich landestypischer Sänger zu allen Zeiten gewesen, meistens. Weshalb es egal ist, was der Song Contest ist: „Natürlich ein Kulturereignis“, wie Werner Lippert vom Kulturforum NRW sagt. Oder ein „Schlageraffen-Wettbewerb“, wie Thomas Mania findet. Beide haben zum Ereignis eine Ausstellung gemacht. Jedenfalls steckt Musik drin!