Duisburg. Der Duisburger Hafenstadtteil soll bis 2029 umweltneutral werden — als erstes urbanes Quartier weltweit. Aber wie kann das gelingen?
Vollgas statt Stillstand. Gleich beim allerersten Fernsehauftritt von Horst Schimanski ging es mächtig drunter und drüber: Der Tatort-Kommissar schlürft zwei rohe Eier zum Frühstück, packt leere Bierpullen zusammen, verlässt die Wohnung, erblickt zwei Stockwerke weiter oben hinter einem Fenster seinen aufgebrachten Nachbarn und brüllt ihm die Worte „Du Idiot, hör‘ auf mit der Scheiße“ entgegen – dann fliegt ein Fernseher aus dem Fenster und zerscheppert auf einem Bürgersteig in Duisburg-Ruhrort.
Ach, Ruhrort! Du bist das Sankt Pauli des Ruhrgebiets. Rau, ehrlich und echt. Nah am Wasser gebaut, warst Du einst wunderschön. Heute lässt sich der Glanz Deiner maritimen Vergangenheit vielerorts zwar nur noch erahnen. Und doch bist und bleibst Du einzigartig. Bald sogar ganz offiziell: Ruhrort ist auf dem Weg zur „Grünen Null“. Als erster Stadtteil weltweit soll das 5,4 Quadratkilometer große Quartier ab 2029 keine Umweltbelastung mehr für den Planeten sein. Überschrieben ist das Vorhaben mit dem Titel „Urban Zero“.
„Ruhrort kann eine Blaupause für die ganze Welt sein.“
Knapp 6000 Menschen leben im Hafenstadtteil Ruhrort. „Und wenn unser Projekt erfolgreich sein soll, muss es uns gelingen, diese Menschen mitzunehmen“, sagt Dirk Gratzel. Der 55-Jährige stapft über eine zwei Hektar große Brache am alten Kohle-Ringhafen in Ruhrort. Graue Wolken hängen über dem verwilderten Areal, von dem „Google Maps“ behauptet, dass es eine „historische Sehenswürdigkeit“ ist.
Lehmklumpen kleben an Gratzels Stiefeln, dicke Brombeerranken reißen immer wieder an seinen Hosenbeinen. Und doch ist der Mann, der in Essen-Borbeck geboren wurde und heute in Aachen lebt, ganz bei der Sache. Denn hier kann er zeigen, wie seine Vision von nachhaltiger Stadtentwicklung wahr werden könnte. „Ruhrort“, sagt er, „kann eine Blaupause für die ganze Welt sein.“
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Doch der Reihe nach. Dirk Gratzel hat fünf Kinder. Als sie anfingen, ihm Fragen zu Umwelt Nachhaltigkeit, dem Klimawandel und seiner Rolle dabei zu stellen, kam er ins Grübeln. „Ich wollte wissen, wie groß mein ökologischer Fußabdruck ist“, sagt Gratzel. „Welchen Schaden habe ich der Umwelt seit meiner Geburt zugefügt – und wie kann ich ihn wiedergutmachen?“
In der Folge hatte Gratzel mit Wissenschaftlern gesprochen. Mit ihnen zusammen wollte er seine persönliche Ökobilanz ausrechnen. „Wir haben dann eine komplette Bestandsaufnahme meines bisherigen Lebens gemacht, sowas hatte es bislang noch nie gegeben. Am Ende stand fest: 1150 Tonnen CO2 sind wegen mir in der Atmosphäre unterwegs.“
Den ökologischen Fußabdruck kleiner machen
Was im Falle eines einzelnen Menschen klappt, kann auch für einen kompletten Stadtteil funktionieren. Im ersten Schritt von „Urban Zero“ haben Wissenschaftler daher nun das Quartier Ruhrort untersucht. Viele Faktoren sind dabei eingeflossen, zwei Jahre hat die Analysephase gedauert. Das Ergebnis ist ein fast 100 Seiten starkes Papier mit dem Titel „Ökobilanzielle Bewertung des Stadtteils Duisburg-Ruhrort.“ Die Untersuchung wird fortlaufend um neue Daten ergänzt. Die Bürger im Stadtteil können eine App auf ihr Smartphone laden und Angaben zu ihrem privaten Konsumverhalten machen. Je mehr Informationen die „Urban Zero“-Macher sammeln, desto genauer werden ihre Berechnungen.
Dirk Gratzel ist studierter Jurist. 2007 hat er eine IT- und Beratungsfirma gegründet, die sich mit Künstlicher Intelligenz befasst. Als Unternehmer war er immer viel unterwegs. 70.000 Kilometer legte er pro Jahr mit dem Auto zurück, wöchentlich saß er in Flugzeugen, und er lebte in einem großen Haus. Für seine persönliche Umweltbilanz war das alles nicht von Vorteil. „Also habe ich meinen Lebensstil geändert“, sagt Gratzel.
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So ließ er zum Beispiel sein Haus gründlich dämmen. Auch Flüge waren fortan für ihn tabu. Sein Wagen blieb immer öfter in der Garage. Stattdessen saß Gratzel in Zügen, in Bussen oder auf dem Fahrrad. Und im Restaurant orderte er Vegetarisch statt Fleisch. „Das hatte schon einen überraschend großen Effekt – ich konnte meine persönliche Öko-Bilanz um etwa 60 bis 80 Prozent verbessern.“
Das Ergebnis war ordentlich. Doch was war mit den Umweltschäden, die Gratzel bereits angerichtet hatte? Ein altes Zechengelände in Marl sollte ihm dabei helfen, seinen ökologischen Fußabdruck verschwinden zu lassen: Ende 2019 kaufte Gratzel die Schachtanlagen Polsum 1 und 2 des früheren Bergwerks Lippe in Marl.
Die RAG wollte sich damals von dem mehr als elf Hektar großen Areal trennen – und für Gratzels Vorhaben war die im Jahr 2008 aufgegebene Bergbaufläche ideal geeignet. Bei seinen ersten Besuchen war das Gelände noch so sehr zugewuchert, dass er sich mit einer Machete durch das Unterholz kämpfen musste. Dann brachte er die Umgestaltung an den Start: Gebäude wurden abgerissen, Schutt abtransportiert, versiegelte Flächen geöffnet, Bäume gepflanzt – und mit jedem neuen Baum, mit jeder beseitigten wilden Müllkippe sammelte Gratzel Pluspunkte für sein persönliches Öko-Konto.
20 Millionen Euro Kosten pro Jahr durch Umweltschäden in Ruhrort
Die Erfahrungen, die Gratzel auf dem Weg zu seiner „Grünen Null“ sammelt, hat er aufgeschrieben und als Buch veröffentlicht. „Projekt Greenzero – Können wir klimaneutral leben?“ ist im August 2020 erschienen und hat für großes Aufsehen gesorgt. Das öffentliche Interesse hat Gratzel ermutigt, seine Idee für weitere Personenkreise zu öffnen.
Also gründete er die Firma „Greenzero“. Sie berät Menschen, Unternehmen und Kommunen, die ihre Ökobilanz verbessern wollen. Und mit seiner „Heimaterbe GmbH“ erwirbt er nun weitere ehemalige Industrieflächen, um sie ähnlich wie in Marl zu renaturieren.
Was dort klappte, soll nun auch ein Puzzleteil des großen Vorhabens sein, das in Duisburg unter dem Namen „Urban Zero“ auf die Beine gestellt wird. Der große in Ruhrort ansässige Mischkonzern Haniel hatte den initialen Schubs gegeben, schnell kamen dann der Duisburger Hafen und die städtische Baugesellschaft Gebag mit an Bord. Auch die Stadtspitze war von Beginn an überzeugt. Oberbürgermeister Sören Link (SPD) sagte, „Urban Zero hebe die nachhaltige Stadtentwicklung auf eine ganz neue Stufe: „Es ist toll, dass so ein einzigartiges Projekt mitten in Duisburg entstanden ist“.
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Ein Ergebnis der ersten „Urban Zero“-Analyse: Rechnet man die Umweltschäden, die in Ruhrort jedes Jahr verursacht werden, in harte Euros um, liegen die Kosten dafür bei rund 20 Millionen Euro pro Jahr. „Mit Hilfe von umfangreichen und gezielten Reduktionsmaßnahmen sollen diese Kosten so weit wie möglich minimiert und schlussendlich der Anteil der Umwelteinwirkungen, die nicht weiter reduzierbar sind, durch Maßnahmen zur ökologischen Aufwertung, möglichst auf Duisburger Stadtgebiet, kompensiert, also ausgeglichen werden“, heißt es weiter in der Analyse.
Und deswegen steht Dirk Gratzel an diesem regnerischen Vormittag nun im Matsch. Die urbane Wildnis am alten Kohle-Ringhafen soll solch eine Kompensationsfläche werden. Ökologen haben bereits jeden Quadratmeter untersucht und dokumentiert. Gratzel sieht schon alles vor seinem inneren Auge. Er spricht von ökologisch wertvoller Bepflanzung, von Spazierwegen, Parkbänken und einem Umwelt-Lehrpfad. Auch das alte Packhaus von Haniel, dessen Eingänge momentan noch mit Pressspanplatten verrammelt sind, wartet hier auf eine neue Bestimmung: Ginge es nach Gratzel, wird die Ruine künftig energetisch saniert und somit zu einer eine Vorzeige-Immobilie für nachhaltiges Bauen. „Ich glaube, hier kriegen wir was Tolles hin.“
Photovoltaik, Wärmepumpen, Isolierplatten: ein Plus an Lebensqualität
Wichtiger ist aber noch, dass Umweltschäden von vornherein vermieden oder zumindest reduziert werden. Und hier sehen Gratzel und seine Mitstreiter mehrere Punkte, an denen es sich anzusetzen lohnt. Es geht um Energiefragen mit Blick auf Stromsparen und Heizen. Photovoltaik soll auf die Ruhrorter Dächer, Isolierplatten an die Fassaden, Wärmepumpen in die Hinterhöfe. Die Menschen sollen motiviert werden, ihre Autos öfter mal stehen zu lassen und ihr Konsumverhalten zu verändern. „Das Ziel“, so Gratzel, „ist eine nachhaltige Transformation, die zugleich mit einem Plus an Lebensqualität verbunden ist.“
Zugleich wächst in Ruhrort die Sorge vor einer möglicherweise einsetzenden Gentrifizierung, also steigenden Kosten für die Bewohner, die oft größere Sorgen haben als den Umweltschutz. „Das hier wird kein Prenzlauer Berg“, sagt Dirk Gratzel. „Selbst wenn Vermieter ihre Kaltmieten anheben, weil sie ihre Häuser modernisieren, werden die Nebenkosten sinken. Für die Mieter hat das alles am Ende Vorteile.“
Der Weg hin zu diesem Ziel sei nicht einfach. „Wir haben noch nicht für alles eine Lösung“, sagt Gratzel. „Es ist eine Reise, ein Abenteuer, und wir müssen noch vieles lernen.“
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