Essen. Wenn ADHS erst im Erwachsenenalter erkannt wird, leiden Betroffene lange unter den Symptomen. Eine Expertin erklärt, wie ihnen geholfen wird.

Beim Stichwort ADHS denken viele klischeemäßig an Kinder, die nur schwer stillsitzen können und in der Schule Probleme haben. Aber was, wenn ADHS in der Kindheit nicht erkannt wird, sondern erst viel später? Verschiedene repräsentative Studien legen nahe, dass zwischen zwei und fünf Prozent der Erwachsenen in Deutschland betroffen sind. Viele leiden lange unter den Symptomen, bevor sie sich Hilfe holen und eine Diagnose erhalten.

Mona Abdel-Hamid stellt solche Diagnosen. Sie ist Privatdozentin und als psychologische Psychotherapeutin seit vielen Jahren in der ADHS-Ambulanz der LVR-Universitätsklinik Essen tätig. Im Interview erklärt sie, wie man ADHS bei Erwachsenen erkennt und unter welchem Leidensdruck die Betroffenen stehen.

Lassen Sie uns mit einer Definition beginnen: Wovon sprechen wir bei ADHS? Einer Verhaltensstörung? Einer Krankheit?

Zunächst einmal unterscheiden wir im klinischen Kontext meist zwischen zwei Typen: ADS ist die Aufmerksamkeitsdefizit-Störung, die mit Aufmerksamkeits-, Organisations- und Konzentrationsproblemen einhergeht. Bei ADHS kommt noch die Hyperaktivität beziehungsweise Impulsivität hinzu. Meine persönliche Definition, die ich auch immer meinen Patienten mit auf den Weg gebe: ADHS ist keine Krankheit, sondern eine Art und Weise, wie das Gehirn funktioniert. Es gibt sogar die Theorie, dass dahinter ein evolutionärer Vorteil steckt: ADHSler sind kreativ, können verschiedene Dinge gleichzeitig im Blick behalten, ‘out of the box’ denken. Nur passt das nicht zu unserer modernen Gesellschaft, die häufig langes Sitzen, beispielsweise am PC, verlangt. Der Leidensdruck entsteht also dadurch, dass die Betroffenen anders ticken, als die Gesellschaft es tut.

Kreativität, Multitasking, abstraktes Denken – klingt erstmal positiv. Welche Symptome machen den Betroffenen Probleme?

Da gibt es eine ganze Reihe: Der ADHSler macht viele Flüchtigkeitsfehler, hat Probleme damit, längere Zeit bei der Sache zu bleiben oder Aufgaben strukturiert zu Ende zu bringen. Hyperaktivität-Impulsivität kann sich darin äußern, nicht lange ruhig zu sitzen. Betroffene werden oft als laut oder tollpatschig wahrgenommen. Dazu gehört auch eine innere Unruhe, wie ein Motor, der die ganze Zeit läuft. Es fällt schwer, zu warten, zum Beispiel an der Supermarktkasse, oder die Betroffenen neigen dazu, andere im Gespräch zu unterbrechen.

PD Mona Abdel-Hamid forscht seit Jahren zum Thema ADHS. Seit 2009 lehrt sie unter anderem am LVR-Klinikum Essen.
PD Mona Abdel-Hamid forscht seit Jahren zum Thema ADHS. Seit 2009 lehrt sie unter anderem am LVR-Klinikum Essen. © PicturePeople

Wissen wir, warum das so ist? Welche Ursache hat ADHS?

Es gibt verschiedene Theorien, aber vieles spricht dafür, dass die Genetik einen Einfluss auf die Produktion von Neurotransmittern im Frontalhirn hat. Wenn Dopamin und Noradrenalin nicht in ausreichender Menge vorliegen, treten Aufmerksamkeits- und Konzentrationsprobleme auf. Wir fragen Patienten, ob es in der Familie jemanden gab, der ihnen ähnlich ist. Meistens hatten Verwandte ähnliche Symptome.

Früher galt ADHS als Problemkind-Krankheit. Hat sich dieses Bild gewandelt?

Ich würde sagen, ja. Ich als Erwachsenen-Therapeutin habe sogar damit zu kämpfen, dass viele froh sind, wenn sie diese Diagnose bekommen und keine andere. Die Symptome, die ich beschrieben habe, können auch bei schweren Depressionen auftreten. Viele sagen: Bevor es eine Depression ist, habe ich lieber ADHS. Das ist weniger stigmatisiert und es gibt Medikamente, die unter Umständen schnell helfen.

Sie diagnostizieren ADHS bei Erwachsenen. Wie alt sind die Menschen, die zu Ihnen in die ambulante Sprechstunde kommen?

Oft kommen Betroffene in ihren 20ern zu uns. Die meisten haben es irgendwie durch die Schule geschafft, aber im Studium, so ohne Kontrolle und Konsequenzen, stoßen sie an ihre Grenzen.

Worunter leiden die Betroffenen am meisten?

Der Leidensdruck ist sehr vielschichtig. ADHSler haben häufiger Verkehrsunfälle, sind risikofreudiger und impulsiver und verletzen sich daher häufiger, zum Beispiel auch beim Sport. Was Schule und Beruf betrifft, stellen wir unter Menschen mit ADHS viele Schulabbrüche oder Verweise fest, auch schlechtere Zensuren. Auf familiärer Ebene kommt es häufig zu Brüchen oder On-Off-Beziehungen, weil die Impulsivität zu Streit führt. Es gibt mehr Scheidungen, wird häufiger betrogen. Auf der Arbeit gibt es Stress, weil man zu spät kommt, scheinbar nicht effizient arbeitet oder sich nicht an Zeitvorgaben hält.

Ein Betroffener kommt mit diesen Anzeichen zu Ihnen. Wie stellen Sie fest, ob es wirklich ADHS ist?

Wir lassen uns zu Beginn in einem sehr ausführlichen diagnostischen Interview die gesamte Biographie schildern. Oft fallen dabei schon Dinge auf, zum Beispiel viele abgebrochene Ausbildungen, Probleme in der Schule. Wir lassen uns immer auch die Zeugnisse aus der Grundschule zeigen. Darin stehen dann Sätze wie: „sollte besser zuhören“, „sollte sich konzentrieren“, „sollte andere ausreden lassen“. Das sind alles Symptome, nur eben verklausuliert. Dann machen wir 90-minütige Computer-Tests, in denen wir Aufmerksamkeit, Konzentration und Kurzzeitgedächtnis überprüfen. Und wir suchen nach möglichen körperlichen Ursachen für die Probleme. Auch geben wir den Betroffenen standardisierte Fragebögen mit, die uns beim Erfassen und Verstehen der Symptome helfen. Erst, wenn wir alles eingehend überprüft haben, stellen wir die Diagnose.

Wie reagieren die Patienten, wenn sie endlich Gewissheit haben?

Die meisten mit einer Mischung aus Erleichterung und Bedauern. Bedauern, weil sie sich fragen: Wieso hat das keiner früher erkannt? Warum ist mir all das passiert, was hätte vielleicht verhindert werden können? Kombiniert mit Erleichterung: Ich bin nicht doof, vielleicht habe ich jetzt eine Chance.

Sind diese Menschen als Kinder durchs Raster gefallen?

Man muss sich bewusstmachen: Was heute das ADHS-Kind ist, war früher der Zappelphilipp. Da haben die Eltern mitkompensiert, bei den Hausaufgaben geholfen oder das Kind in Sportvereine gesteckt, damit es sich auspowern kann. Es gibt einige Betroffene, die mit ADHS sehr weit im Leben gekommen sind, deren Kompensationssystem über Jahre sehr gut gegriffen hat.

Kommt es vor, dass Menschen erst mit 50 oder später realisieren, dass sie ADHS haben könnten?

Das ist gar nicht selten, aber dann muss ich hinterfragen: Seit wann bestehen die Beschwerden? Was ist wann schlimmer geworden? Ich prüfe alle Patienten gleich. Und wenn einer sagt: „Ich habe diese Probleme erst seit zwei Jahren“, dann ist es vermutlich kein ADHS. Auch bei zehn Jahren nicht. Entweder man hat es seit der Kindheit oder eben nicht.

Angenommen, es ist wirklich ADHS: Wie helfen Sie den Betroffenen in der Behandlung?

Wir bieten den Patientinnen und Patienten eine sogenannte multimodale Therapie an. Es gibt das Angebot einer medikamentösen Behandlung. Das wünschen sich die meisten, weil viele unter großem Druck stehen. Dann folgen unterstützende Gespräche mit Psychotherapeuten und eventuell auch Ergotherapie. Da liegt der Fokus auf Kompensation: Wir können ADHS nicht wegreden, sondern es geht darum, mit dem den Patienten gemeinsam Strategien zu erarbeiten, wie er oder sie sein Leben strukturieren kann. Achtsamkeitsübungen sind eine gute Methode, um sich seiner selbst besser bewusstzuwerden. Sport ist sehr wichtig gegen die körperliche innere Unruhe.

Viele Betroffene berichten, dass das ADHS ihre Beziehungen belastet. Was raten Sie Angehörigen?

Ich finde wichtig, dass man sich informiert, um einschätzen zu können: Was macht der- oder diejenige, weil es zum ADHS gehört? Um sich auch klarzumachen: Er oder sie will mich nicht ärgern. Infos können helfen, wohlwollender auf bestimmte Dinge zu blicken. Auch Betroffenen rate ich: Informiert euch, erklärt euer Verhalten mit diesen Infos, ordnet es ein, damit eure Freunde und Familie es verstehen können.

Gibt es eine verbreitete Fehlannahme zum Thema, mit der Sie gerne aufräumen würden?

Was viele meiner Patienten im Laufe ihres Lebens hören müssen, ist der Spruch: Du musst dich nur anstrengen, dann geht es. Du kannst, wenn du willst. Das macht die Betroffenen fertig, weil es schlicht nicht so einfach ist.

>>> INFO: ambulante Sprechstunde für ADHS im Erwachsenenalter

  • Die LVR-Universitätsklinik Essen bietet eine ambulante Sprechstunde für Erwachsene mit Verdacht auf ADHS an.
  • Alle Infos finden Interessierte unter www.klinikum-essen.lvr.de.

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