Bochum. Evelyne Cynk möchte in Irland leben. Fast alles ist vorbereitet. Doch es gibt einen Streit um die Kostenübernahme für ihre Assistenz im Ausland.
Evelyne Cynk hat einen Traum. Sie wünscht sich nichts sehnlicher, als nach Irland auszuwandern, auf die grüne Insel. Nicht nur, weil sie Irland schon seit ihrer Jugend liebt. Auch, weil sich ihr dort Chancen als Schriftstellerin eröffnen, die sie in Deutschland so nicht hätte.
Die 34-jährige aus Bochum hat schon sehr viel getan, um diesen Traum zu verwirklichen: Sie hat eine Zusage für einen Master-Studienplatz am renommierten University College Cork (UCC) für Kreatives Schreiben. Ebenso für ein sechsmonatiges Praktikum beim Literaturmagazin „The Stinging Fly“ in Dublin. Mehrere Jobangebote gab es auch schon. Und nach fünf Jahren vor Ort könnte sie in Irland eingebürgert werden. „Das ist eine Möglichkeit, die man einmalig im Leben bekommt, eine richtig große Karrierechance für mich.“
Nationales Recht gegen EU-Recht
Doch dem Traum von Evelyne Cynk steht eine Hürde im Weg. Sie hängt damit zusammen, dass Evelyne Cynk aufgrund einer Schwerbehinderung auf 24-Stunden-Assistenz angewiesen ist, deren Kosten hier in Deutschland vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) getragen werden. Damit die Betreuung in den fünf Jahren bis zur Einbürgerung in Irland gewährleistet wäre, hat Evelyne Cynk einen Antrag auf Übernahme der Kosten für Assistenzleistungen im Ausland gestellt. Der wurde jedoch vom Inklusionsamt Soziale Teilhabe des LWL abgelehnt. Denn nach § 104 Absatz 5 des Sozialgesetzbuchs dürfte der Aufenthalt im Ausland nur vorübergehend und nicht permanent angestrebt sein. Sprich: Für ein Auslandssemester wäre eine Kostenübernahme unter gewissen Voraussetzungen kein Problem, da Evelyne Cynk aber dauerhaft in Irland leben möchte, wird dies nicht genehmigt.
Ein Paragraf, der im Konflikt mit dem EU-Recht auf Freizügigkeit steht, da er es faktisch verhindert, dass sich Menschen mit Schwerbehinderung und Anspruch auf Assistenz frei in der EU bewegen können. Ebenso steht er im Widerspruch zu mehreren Artikeln der UN-Behindertenrechtskonvention sowie mit der neuen EU-Strategie für die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2021-2030.
„Bemerkenswert ist, dass dieser Paragraf, der verhindert, dass Menschen mit Behinderungen auswandern und ihr EU-Recht einfordern, nur in den nationalen Teilhabegesetzen von Deutschland verschriftlicht ist“, sagt Evelyne Cynk. In anderen EU-Ländern existieren solche Gesetze nicht. Dass sie sich so gut auskennt mit dieser Materie, ist kein Zufall: Die Bochumerin hat einen Bachelor in Heilpädagogik gemacht – und passenderweise war das Thema ihrer Bachelor-Arbeit: „Auswandern mit Behinderung“.
Ökonomische Argumente sprechen auch für eine Auswanderung
Cynk versucht, mit juristischen Mitteln zu überzeugen, denn wenn es zu einer Klage käme, würde vermutlich das EU-Recht die nationale Gesetzgebung schlagen – und Cynk könnte auswandern. Sie versucht aber auch, mit ökonomischen Argumenten zu überzeugen. In einem Kostenvergleich rechnet die 34-Jährige vor, dass sie bei gleichbleibenden Assistenzkosten und einer vorsichtig geschätzten Lebenserwartung von weiteren 40 Jahren dem deutschen Staat mehr als 10,3 Millionen Euro Kosten bereiten wird. Im Gegensatz dazu stünden die 1,3 Millionen Euro, die sie im Falle der Auswanderung in den kommenden fünf Jahren bis zur Einbürgerung nach Irland verursachen würde. Langfristig gesehen könnten also gut 9 Millionen Euro an Leistungen eingespart werden. Außerdem würde Cynk in Deutschland keine Kosten für Ärzte, Krankengymnastik und Hilfsmittel verursachen.
Hinzu kommt noch: Die Betreuung durch den irischen Assistenzdienst Home Care Direct (HDC) wäre laut Kostenvoranschlag sogar noch kostengünstiger als die hier in Deutschland: Pro Monat würde allein eine Ersparnis von 1000 Euro entstehen – auf 60 Monate gerechnet also 60.000 Euro.
Die Presse in Irland berichtet bereits über den Fall in Bochum
Der Fall ist bereits in Irland in die Presse und zu höheren Stellen vorgedrungen: Der Irish Examiner zitiert den Senator und Anwalt für Behindertenrecht Tom Clonan, der die Ablehnung der Unterstützung als „unfair und grausam“ bezeichnet hat. „Evelyne werden hier ihre grundlegenden Menschenrechte auf Reisefreiheit und Bildung verweigert“, sagte er der irischen Zeitung. Er will sich dafür stark machen, dass das University College Cork sich an den deutschen Botschafter wendet und der irische Bildungsminister Simon Harris mit seinem deutschen Pendant, Bettina Stark-Watzinger (FDP), in Verbindung tritt.
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Evelyne Cynk hat bereits nach Präzedenzfällen gesucht. Aber es scheint, dass sie die erste Deutsche mit Schwerbehinderung ist, die innerhalb der EU auswandern möchte. „Ich glaube, dass viele Menschen mit Behinderung sich bisher nicht getraut haben, das durchzuziehen. Weil es auch ein enormer juristischer Aufwand ist“, sagt Cynk, die ihren Fall nun selbst zum Präzedenzfall machen möchte. Die Bochumerin sieht sich „systematisch diskriminiert“, ihrer „Freiheit beraubt“ und ihre Menschenrechte verletzt. „Das Schlimmste ist: Das gilt nicht nur für mich, sondern für jeden Menschen in Deutschland mit einer Behinderung.“
Immerhin hat der LWL zugestimmt, sich den Kostenvoranschlag des irischen Assistenzdienstes HDC anzuschauen. Eine offizielle Stellungnahme des LWL hat es auf Nachfrage bis zum Redaktionsschluss noch nicht gegeben.
Viel Unterstützung aus Irland
Laut Cynk ist sowohl das Behindertenministerium als auch das Bildungsministerium in Irland derweil mit der Angelegenheit beschäftigt, es könne auch zu einer Eilklage vor dem Europäischen Gerichtshof kommen.
„Ich habe noch nie in meinem Leben so viel Zuspruch und Unterstützung erhalten wie in Irland“, sagt Cynk. Das bestätigt sie in ihrer Liebe zum Land, es sei ein „Zeichen, dass ich da hingehöre“. Sie beschäftigt sich seit vielen Jahren mit irischer Literatur und: „Seit fünf Jahren käme mir nicht einmal mehr in den Sinn, auf Deutsch Romane zu schreiben!“ Die englische Sprache sei ihr Zuhause, „auch wenn ich sie noch nicht perfekt beherrsche“.
Sie würde gern über ihren eigenen Fall hinaus etwas verändern. „Meine utopische Hoffnung für alle Menschen mit Behinderungen wäre, dass nach meinem Fall der betreffende Paragraf im Sozialgesetzbuch gestrichen werden muss, weil er Menschenrechte verletzt.“ Wenn Evelyne Cynk mit ihrem Kampf erfolgreich sein sollte, hätte die Autorin jedenfalls genug Stoff gesammelt für ein erstes, großes Buch.