Essen. Menschen mit und ohne Behinderung trainieren im Sportzentrum Ruhr zusammen. Ein Buch gibt Tipps, wie auch andere Vereine Inklusion leben können.

„Was für ein Sauwetter“, sagt Elvira Hillemacher. Und ihr Lächeln verrät: So schlimm findet sie den Regen gar nicht. Wasser ist schließlich ihr Element, wobei es etwas wärmer und in einem großen Becken sein darf. Dann zieht die 71-Jährige ihre Bahnen. Nicht nur zum Spaß. Sie will gewinnen. Und das hat sie auch schon oft getan. „Zweimal Gold, zweimal Silber, einmal Bronze“, zählt sie stolz ihre Erfolge auf bei den Special Olympics, den Olympischen Spielen für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung. Und dann wird ihr Lächeln noch breiter: „Nächstes Jahr geht es nach Berlin!“

Sie leben Inklusion: Ewald Brüggemann, Dennis Dübel, Elvira Hillemacher und Tobias Papies (v.l.).
Sie leben Inklusion: Ewald Brüggemann, Dennis Dübel, Elvira Hillemacher und Tobias Papies (v.l.). © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

Ihr Trainer ist Ewald Brüggemann. Der 58-Jährige leitet mit Tobias Papies das Sportzentrum Ruhr, in dem Menschen mit und ohne Einschränkungen trainieren können. Und sie sind die Initiatoren eines Buches: „Inklusion im Sport“. Das Franz Sales Haus in Essen, eine Einrichtung, die sich für Menschen mit Behinderung einsetzt, hat es herausgebracht.

Geht nicht? Gibt’s nicht!

„Es war uns eine Herzensangelegenheit“, sagt Brüggemann. „Wir wollten unsere Erfahrungen aus der Praxis anderen zur Verfügung stellen.“ Viel zu häufig würde es im Sport heißen: Du kannst das nicht? Dann geht das nicht. Und wie es geht, das haben die beiden, die Sport studiert haben, schon mehrmals erlebt.

Elvira Hillemacher hatte in der Kindheit einen schweren Verkehrsunfall – mit kognitiven Langzeitfolgen. Sie braucht Hilfe im Alltag, beim Einkauf, bei Überweisungen, bei Behördengängen. Sie lebt seit 1959 im Franz Sales Haus. Beim Schwimmen fühlt sie sich wohl – und fit bleibt sie auch: „Mein Arzt sagt, ich könnte 100 Jahre alt werden.“ Brüggemann lächelnd: „Man braucht schließlich Ziele.“

Was kann Sport noch bewirken? Die beiden werfen sich die Gedanken wie Bälle zu. Brüggemann: „Die Freude an der Bewegung wecken.“ Hillemacher voller Selbstvertrauen: „Medaillen gewinnen.“ Brüggemann: „Auch mal verlieren können.“ Hillemacher: „Dabei sein.“ Brüggemann: „Im Sport fürs Leben lernen. Niederlagen muss man ja auch im Leben verkraften.“ Papies ergänzt: „Es geht um Sport, aber es geht noch um viel mehr.“

Schwimmer ohne Arme oder Beine

Bei den nationalen Sommerspielen der Special Olympics nächstes Jahr in Berlin wird darauf eingegangen, was die Menschen mitbringen. Elvira Hillemacher mag es gar nicht, vom Startblock ins Wasser zu springen. Sie darf vom Rand aus starten. „Es sind welche dabei, die keine Arme haben, keine Beine“, sagt Hillemacher. „Wir treiben sie an, jubeln, wir staunen, wie sie es schaffen. Das geht einem ans Herz!“

Auch im Sportzentrum Ruhr würden sie nicht als erstes auf Defizite schauen, betont Brüggemann: „Unsere erste Frage ist nicht: Welche Behinderung hast du, was fehlt dir? Sondern: Herzlich willkommen, was willst du hier machen?“

„Die größten Barrieren sind in den Köpfen“

Papies kritisiert die Haltung von vielen Menschen: „Die größten Barrieren sind in den Köpfen.“ Sie schauten aufs Scheitern – und nicht auf mögliche Wege. Wenn jemand im Rollstuhl sitzt, kann er nicht rennen. „Aber vielleicht schwimmen“, so Brüggemann. „Der Mensch mit Handicap ist Experte für sein Handicap“, betont Papies. „Wir überlegen gemeinsam, was geht. Diese Grundhaltung ist wichtig.“

Hinweisschilder weisen den Weg – ohne Worte, dafür mit Bildern und einer fühlbaren Brailleschrift für Blinde.
Hinweisschilder weisen den Weg – ohne Worte, dafür mit Bildern und einer fühlbaren Brailleschrift für Blinde. © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

Und dann erzählt der 38-Jährige die Geschichte von Rainer Schmidt: Theologe, Kabarettist, Tischtennisspieler, der bei den Paralympics brillierte. Ein Mann ohne Unterarme, ohne Hände. Die Menschen haben ihn nicht ausgeschlossen, er durfte als Kind mitspielen. Die Lösung: eine Konstruktion aus Schaumstoff und Schnüren, um den Schläger zu halten. Dann trat Schmidt einem Verein bei. Papies: „Hätte der Trainer damals gesagt: ,Kriegen wir nicht hin.’ Er wäre nie erfolgreicher Sportler geworden.“

Inklusion beginnt bei der Einstellung

Das Beispiel zeige, dass jeder Verein die Türen öffnen kann. Bauliche Besonderheiten, wie beim Sportzentrum Ruhr, sind noch besser. Aber die Voraussetzung für gemeinsamen Sport beginnt früher – bei der Einstellung.

Das Franz Sales Haus gründete 1978 den Sportverein. Das Sportzentrum Ruhr entstand ab 2005. „Ich weiß noch, wie es eingeweiht wurde“, erinnert sich Elvira Hillemacher. Die Schilder an den Türen haben nicht nur eine fühlbare Brailleschrift für Blinde, sie zeigen auch ohne Worte, dafür mit einem Strichmännchen etwa neben Socken, Pulli, Hose, dass sich hinter der Tür die Umkleide befindet. Brüggemann: „Es ist eine Kleinigkeit, aber sie hilft, Barrieren abzubauen.“

Das barrierefreie Schwimmbad hat einen verstellbaren Boden. Wenn das Wasser nicht so tief ist, braucht man sich nicht zu fürchten, so Brüggemann: „Angst ist im Lernbereich nicht zu gebrauchen. Angst blockiert.“ Es gibt auch Sporthallen, Außenplätze, eine „Muckibude“, die auf die Bedürfnisse der Sportler abgestimmt ist: mehr Platz für Rollstuhlfahrer. Und wer nicht lesen kann, wie schwer ein Gewicht ist, orientiert sich an der Farbe: Rot steht für acht Kilogramm.

Die gesellschaftliche Teilhabe ist im Bundesteilhabegesetz verankert

Aber es soll kein Zentrum ausschließlich für Menschen mit Einschränkungen sein, betont Brüggemann. „Jeder Mensch, mit und ohne Behinderung, ist eingeladen, hier Sport zu treiben.“ Schließlich ginge es um Inklusion, um das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe, wie es im Bundesteilhabegesetz verankert ist. Die Aktion Mensch erklärt den Begriff so: „Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch ganz natürlich dazu gehört, egal wie du aussiehst, welche Sprache du sprichst oder ob du eine Behinderung hast.“ Wenn alle Menschen dabei sein können, ist es normal, verschieden zu sein.

Mit den Geschichten, die in dem Buch die Sportler teils selbst erzählen, werde deutlich, wie schön gemeinsamer Sport sein kann, so Papies. Dabei sind nicht alle so leistungsorientiert wie Elvira Hillemacher. Viele Menschen mit oder ohne Einschränkungen wollen sich einfach nur in der Gemeinschaft bewegen. „Darauf sollten sich Sportvereine wieder besinnen“, rät Papies. Zudem müsse man nicht immer nach internationalen Regeln spielen. Man könne sie auch anpassen. Ein Beispiel: Sitzvolleyball.

Traumjob im Sportzentrum

Tischtennis kann man im Sportzentrum spielen oder Basketball oder Fußball. Das ist die große Leidenschaft von Abwehrspieler Dennis Dübel. Der 29-Jährige mit mentalem Handicap ist im Franz Sales Haus aufgewachsen, hat nach der Förderschule in den Werkstätten gearbeitet, in der Bäckerei. Aber sein Traum war ein Job im Verein. Der ist in Erfüllung gegangen: Heute arbeitet er im Sportzentrum als Hausmeister – und als Co-Trainer im Fußball. „Er ist geduldig, verlässlich, weiß den Geburtstag von jedem Mitarbeiter. Wir bräuchten eigentlich zwei Dennis’“, schwärmt Brüggemann von der Arbeit seines Kollegen. Auf die Frage, wie man den Fußball-Nachwuchs mit und ohne Behinderung am besten trainiert, antwortet Dennis Dübel: „Gute Laune verbreiten.“

Bald geht es also für Elvira Hillemacher nach Berlin. Sie wirkt nervös, wenn sie von ihrer Vorfreude erzählt. „Das ist ja normal, wenn man etwas erreichen möchte“, sagt Brüggemann. „Wenn es einen kalt lassen würde, wäre es ja kein Ziel.“ Nur einen Ort findet Elvira Hillemacher noch schöner als ein Schwimmbad: „Das Meer in Spanien.“

Ewald Brüggemann, Tobias Papies, u.a.: Inklusion im Sport. Franz Sales Haus, 175 S., 19,80 €, plus Versandkosten. Bestellung über: franz-sales-haus.de/sport/inklusion-im-sport