1972, vor 50 Jahren, ging das Interrail-Ticket erstmals über den Verkaufstresen. Bernd Baumhold fuhr im ersten Jahr quer durch Europa.
Vier Freunde fahren mit dem Zug quer durch Europa, vier Wochen Abenteuer, vier Wochen voller neuer Eindrücke – so hatten der Bochumer Bernd Baumhold (67) und seine drei Freunde Laki, Klaus und Feri sich das 1972 vorgestellt. Doch los ging ihre Interrail-Tour mit einer Pleite: „Nur einer von uns hatte zu Hause ein Telefon. Spontane Änderungen konnten wir also nicht vornehmen. Und so trafen wir uns am Abreiseabend am Bahnhof Bochum, doch Laki, meinem griechischen Freund, fehlte das Transitvisum für Jugoslawien. Es war noch in der Post, und ohne konnte er nicht starten.“ Kurzerhand entschieden sich die vier für eine Notlösung: Laki und Feri blieben in Bochum, um auf den Postboten am nächsten Tag zu warten, Bernd und Klaus fuhren vor nach Paris. Zwei Tage später, so vereinbarten sie es, wollten sie sich um 12 Uhr unter dem Eiffelturm treffen.
Was heute fast schon verrückt klingt und niemand mehr so planen würde, gelang tatsächlich! „Wir waren mit viel Gottvertrauen unterwegs, positiv gestimmt und experimentierfreudig“, erinnert sich Baumhold und muss selbst über die Naivität schmunzeln. „Wie waren einfach völlig heiß darauf, dieses Ticket intensiv zu nutzen.“
Sparen, jobben, schnorren
87.000 Fahrkarten gingen 1972 von den teilnehmenden Eisenbahngesellschaften über die Verkaufstheke. 21 Länder zum Pauschalpreis von 235 D-Mark: Diese Idee revolutionierte das Reiseverhalten junger Menschen in Europa. „Als Interrail bekannt wurde, haben wir alle gespart, gejobbt, geschnorrt und das Geld dann letztlich auch zusammenbekommen, um vier Wochen unterwegs zu sein. Wir hatten noch 400 bis 450 Mark für die anderen Ausgaben kalkuliert, etwa Übernachtungen in der Jugendherberge und Essen“, sagt der Bochumer.
Baumhold war bei der Abreise gerade 18 Jahre alt, seine Eltern unterstützen das Vorhaben zwar nicht finanziell, hielten ihn aber auch nicht zurück. „Ich habe im Stahlwerk, als Gärtner, im Getränkehandel an der Abfüllmaschine gearbeitet, Autos vom Nachbarn geputzt, der Mitbewohnerin die Kohlen hochgetragen und alles gespart. Vermutlich gab es von meinem Opa auch noch 10 oder 20 Mark dazu.“ Weil noch niemand EC- oder Kreditkarten benutzte, wurde die gesamte Reisekasse im Brustbeutel verwahrt.
Unterwegs mit ganz viel Gottvertrauen
Ihre Route hatten sich die vier vorher überlegt: Bochum, Aachen, Paris, Arcachon, Bordeaux, Tarbes, Sète, Mailand, Belgrad, Thessaloniki, Serres und von dort in ein kleines, nahe gelegenes Bergdorf, in dem die Oma von Laki lebte. „Wir besaßen eine große Karte für den Geltungsbereich unseres Tickets und wussten, wo wir hin wollten. Planen konnten wir aber nur von Station zu Station. Und für keinen der Züge lag uns eine Reservierung vor.“ Gottvertrauen eben…
Nachdem sich das Quartett nach dem ersten Abenteuer unterm Eiffelturm in Paris wiedertraf, ging es weiter Richtung Bordeaux und von dort nach Tarbes in die Pyrenäen. „1966 hatte ich dort schon eine Freizeit mit den Pfadfindern verbracht und kannte den Ort also ein wenig. Man steuert ja gern auch Ziele an, die einem nicht gänzlich unbekannt sind“, erklärt Bernd Baumhold die Auswahl des Zwischenstopps. Am späten Abend kamen die jungen Männer im französischen Ort an, wo zwei Soldaten ihnen einen Hinweis auf ein ruhiges Übernachtungsplätzchen gaben: Eine Ecke hinter dem Sportplatz ganz in der Nähe. „Den Tipp nahmen wir sorglos an und konnten dort tatsächlich auch gut schlafen.“
Dann ging es weiter nach Sète an der Mittelmeerküste, wo zum ersten Mal auf der Reise ein längerer Stopp anstand. Die Freunde buchten sich in einer Zelt-Jugendherberge ein und waren endlich einmal in der Lage, ohne die schweren Rucksäcke die Umgebung zu erkunden und auch im Mittelmeer abzutauchen. „Wir blieben zwei oder drei Nächte“, erinnert sich Baumhold. „Vor der Weiterfahrt ging es dann sogar in ein Restaurant, weil alle noch zu viel Hartgeld übrig hatten. Ich bestellte mir Nudeln, die aber nur mit einer Gabel serviert wurden. Deshalb fragte ich meinen Freund Klaus, der Französisch in der Schule hatte, was Löffel übersetzt heißt. Ich höre seine Antwort heute noch. ‚Watt weiß ich, wat Löffel heißt!‘, posaunte er hervor. Plötzlich kam von einem Tisch hinter uns der Satz: ‚Das sollten Sie aber wissen. Das hatten wir schließlich im Unterricht!’“, berichtet Baumhold. Da saß doch tatsächlich in dem kleinen Restaurant, Hunderte Kilometer von Bochum entfernt, die Französischlehrerin von Klaus am Nebentisch. Quelle surprise!
Weiter ging es über Nacht entlang der Cote D’Azur nach Mailand, 20 Stunden im Zug. Überhaupt lief das Reisen auf Schienen 1972 bei weitem nicht so komfortabel wie heute. In den Waggons war es heiß, aushaltbar meist nur mit offenem Fenster, und schlafen konnten die vier oft nur auf dem Boden.
In Mailand verbrachten sie die Nacht in einer Jugendherberge und stiegen am nächsten Tag in den Hellas Express, der über Belgrad nach Thessaloniki fuhr. Der Zug kam aus Dortmund, brauste durch bis nach Athen und brauchte für die gut 3000 Kilometer 50 Stunden. „Wir sind von Mailand bis zu unserem Ziel dann noch 30 Stunden mitgefahren. Am Bahnhof von Thessaloniki haben wir übernachtet und sind am nächsten Morgen nach Serres weiter zur Oma von Laki.“
Endlich angekommen! Eine Woche hatten die Reisegruppe für das griechische Inland eingeplant und entschied sich zum Wandern. Danach standen noch vier Tage Athen auf dem Programm, samt Besuch der Akropolis. Zurück bei der Großmutter ging das Quartett noch einmal in Serres aus, bevor sie sich auf den Rückweg machten. „Wir waren in einem Open-Air-Kino und im Anschluss Gyros essen. Als wir mit dem Taxi zurück ins Bergdorf fahren wollten, kam plötzlich ein betrunkener Mann auf uns zu. Es stellte sich raus, dass er Postbote war und einen Brief erhalten hatte. Auf dem stand: ‚An den Griechen und die drei Deutschen, die durch Serres spazieren‘“, erzählt Baumhold. Und das kam so: In den 30 Stunden zwischen Mailand und Thessaloniki hatte Laki sich in eine junge Griechin verliebt, die in der Schweiz lebte. Die beiden vergaßen jedoch, ihre Adressen auszutauschen. Laki wusste aber, dass die junge Frau mit ihren Eltern nach Samos wollte, und sie, wusste, dass Laki in ein Dorf in der Nähe von Serres fuhr. Um mit Laki in Kontakt zu bleiben, kam sie auf die Idee, an das Postamt in Serres zu schreiben.
Der Brief kam tatsächlich in Bochum an
Besagtes Gottvertrauen war offensichtlich international zu dieser Zeit. „Am liebsten hätte Laki die Tür zum Postamt noch in der Nacht aufgebrochen, ist aber dann am nächsten Morgen sofort wieder nach Serres gelaufen“, erzählt der Bochumer. Doch: Der Brief war gerade wieder nach Samos geschickt worden! Glücklicherweise waren die Mitarbeiter des Postamts in Serres so nett, auf Samos anzurufen und die Kollegen zu bitten, das Schriftstück noch einmal an die Oma von Laki zu senden. Tatsächlich kam es schließlich an, natürlich lange, nachdem die jungen Männer schon abgereist waren. „Lakis Oma schickte ihm dann den Brief nach Deutschland.“
Vier Freunde fahren mit dem Zug quer durch Europa, vier Wochen Abenteuer, vier Wochen voller neuer Eindrücke – so hatten der Bochumer Bernd Baumhold und seine drei Freunde Laki, Klaus und Feri sich das 1972 vorgestellt. Und so ist es auch passiert!
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