Essen. Verstärken Krisen wie Ukraine-Krieg und Corona-Pandemie das Schubladendenken? Ein Gespräch mit Beate Krickel, Professorin für Philosophie.
Unsichere Zeiten erhöhen den Wunsch nach Sicherheit, nach einfachen Erklärungen. Befeuert das Vorurteile? Redakteurin Maren Schürmann sprach mit Beate Krickel. Die Professorin für Philosophie forscht zu unbewussten Vorurteilen und ist von der Ruhr-Uni Bochum an die Technische Universität Berlin gewechselt. Wir erreichen die 37-jährige Wissenschaftlerin in ihrem Homeoffice in Essen.
In der Pandemie wurden Autos zerkratzt, die aus Heinsberg kamen – wo es den ersten Corona-Fall in Deutschland gab. Und seit dem Krieg in der Ukraine werden Menschen mit russischen Wurzeln angefeindet, auch in unserer Region. Zum Beispiel wurden in Oberhausen die Fenster eines Supermarkts mit osteuropäischen Waren eingeschlagen. Lösen Vorurteile dieses Handeln aus?
Beate Krickel Ich glaube, dieses respektlose Verhalten hat mehr mit dem Bedürfnis zu tun, einen Sündenbock zu finden. Es wird den Menschen eine Zugehörigkeit zu einer Gruppe zugeschrieben, die man dann mitverantwortlich für zum Beispiel den Krieg in der Ukraine macht. Genauso hat man in der Vergangenheit nach islamistischen Terroranschlägen Muslime dazu aufgefordert, sich zu distanzieren. Aber Sie haben mit Ihrer Frage nach den Vorurteilen einen wichtigen Punkt angesprochen: Wir müssen jetzt darauf achten, wie sich Überzeugungen und Verhalten zum Beispiel gegenüber russischen Personen entwickeln, um entgegenwirken zu können, wenn neue Feindbilder entstehen oder alte wieder aktiviert werden.
Welche Rolle spielt da die Sprache? Bundeskanzler Olaf Scholz hat in seiner Regierungserklärung von Putins Krieg gesprochen, nicht vom Krieg der Russen.
Die Worte hat er bestimmt auch gewählt, weil viele Russen gar nicht wissen, was da wirklich passiert. Zudem ist es sinnvoll, auf die Worte zu achten, damit überhaupt nicht erst sprachlich der Eindruck entsteht, dass DIE Russen daran Schuld tragen und womöglich andere Akteure die Stimmung aufheizen.
Ich habe den Eindruck, der Ukraine-Krieg, aber auch die Corona-Pandemie sind ein Nährboden für Vorurteile. Liege ich da richtig?
Es scheinen jetzt Vorurteile zu Tage zu treten, die nicht erst durch die Krisen entstanden sind, sondern die vorher schon da waren. Zum Beispiel aktiviert die Corona-Pandemie Vorurteile über die Ess- und Hygienegewohnheiten in China.
Flüchtende aus Syrien, die ein ähnliches Schicksal erlitten haben wie die Menschen in der Ukraine, konnten mit nicht so viel Mitgefühl auf breiter Ebene rechnen.
Hier führen unsere Vorurteile dazu, dass wir das so unterschiedlich bewerten. Aber auch bezogen auf die Flüchtenden aus der Ukraine muss sich noch zeigen, wie lange das Mitgefühl anhält. Vorurteile gegenüber osteuropäischen Menschen sind im Westen Europas weit verbreitet, stehen aber momentan nicht im Fokus der sozialpsychologischen Forschung. Ich forsche zu impliziten Verzerrungen oder Biases, oft als „unbewusste Vorurteile“ übersetzt, also zur automatischen Kategorisierung: Man sieht jemanden und reflektiert nicht, wie man sich verhalten oder was man über ihn denken soll. Man macht das automatisch.
Können Sie das bitte näher erläutern – und wie Vorurteile entstehen?
Diesen unbewussten Vorurteilen liegen verschiedene psychologische Mechanismen zugrunde. Es gibt etwa das Assoziative Lernen, das heißt, Dinge, die häufig gemeinsam auftreten, verbinden wir in unserem Gedächtnis miteinander. Wenn man dann an eines dieser Dinge denkt, denkt man automatisch an das andere: Wenn man Pfeffer hört, denkt man sofort an Salz. Aber das ist nur ein Punkt. Vorurteile sind meist historisch gewachsen. Es kommt ja nicht von ungefähr, dass über Jahrhunderte immer die gleichen Personengruppen diskriminiert werden. Dass Menschen automatisch kategorisieren, hat sich evolutionär entwickelt, weil es prinzipiell Vorteile bringt. Wir können blitzschnell Dinge miteinander assoziieren: Feuer bedeutet Schmerz, da gehe ich lieber weg. Wenn wir einen dunklen Raum betreten, greifen wir automatisch zum Lichtschalter neben der Tür. Wir müssen nicht überlegen, wir handeln automatisch.
Aber – Sie haben es bereits angedeutet – die Schlüsse sind eben nicht immer richtig.
Ein Problem kann sein, dass diese Assoziationen in verschiedenen Kontexten einfach unangemessen sind. Um beim Beispiel zu bleiben: Neben der Tür ist kein Lichtschalter, sondern eine Steckdose. Ich muss dann in der Lage sein, diesen anfänglichen Impuls zu unterdrücken: Stopp, ich denke jetzt nach und überlege bewusst, was ich tue. Das ist oft anstrengend. Außerdem passiert das automatische Kategorisieren oft so schnell, dass wir in den Situationen gar nicht merken, dass wir eigentlich nachdenken sollten.
Was kann man selbst gegen seine Vorurteile machen?
Auch interessant
Zunächst muss man überhaupt bemerken, dass man Vorurteile hat. Ehrlich über die eigenen Überzeugungen nachzudenken, kann hier bereits helfen. Um Vorurteile abzubauen, hilft es, sich über die entsprechenden Länder und Kulturen zu informieren. Auch sollte man auf Gemeinsamkeiten achten und trainieren, auf das Verbindende zu schauen. Das Ziel ist, dass man sich irgendwann automatisch so verhält, wie es den eigenen Werten entspricht. Wir müssen sozusagen das Gegenteil von unseren Vorurteilen leben, um diese Vorurteile loszuwerden.
In den vergangenen Jahren gab es zum Glück nicht nur Katastrophen. Wir haben auch eine neue demokratisch gewählte Regierung – und die Hälfte des Kabinetts besteht aus Ministerinnen. Wird das Vorurteile gegenüber Frauen in Führungspositionen abbauen?
Das ist die Hoffnung, wenn es um das Vorurteil geht, dass Frauen keine Machtpositionen ausfüllen können. Aber es können auch neue Stereotype entstehen. Aus den USA kam zum Beispiel die „ban bossy“ Kampagne, die sich gegen das Vorurteil eingesetzt hat, dass Frauen in Führungspositionen herrschsüchtig seien. Außerdem gibt es den Effekt, dass viele sagen: Seht doch, eine Ministerin, dann ist doch alles gut und gleichberechtigt. Dadurch wird ignoriert, dass es immer noch nur wenige Frauen in Führungspositionen schaffen und es auf anderen Ebenen noch keine Gleichberechtigung gibt. Ich glaube, wenn man das nachhaltig ändern will, muss man die Systeme ändern. Man sollte Frauen nicht coachen, wie sie die Ellbogen ausfahren oder Mütter, wie sie besser mit Stress umgehen. Man müsste die Arbeitswelt so ändern, dass eben auch Menschen Führungs- und Machtpositionen übernehmen wollen und können, denen zum Beispiel Harmonie wichtig ist oder die sich um ihre Kinder kümmern möchten.