Essen. Kinder müssen vor dem Krieg fliehen, wie diese Menschen damals, als sie Kind waren. Welche Erinnerungen durch Bilder aus der Ukraine wach werden.

Man kann nicht den Fernseher einschalten, nicht die Zeitung aufschlagen, ohne die schrecklichen Bilder aus der Ukraine zu sehen. Was ja wichtig und richtig ist. Doch besonders der älteren Generation fällt es schwer, denn plötzlich ist alles wieder da, als wäre es gestern gewesen: Die im Zweiten Weltkrieg als Kind erlebten Leiden, die Todesangst, oftmals die Flucht, der Verlust von geliebten Angehörigen. Hier erzählen einige von ihren Erinnerungen – und ziehen Parallelen zur heutigen Zeit.

Tot unter Trümmern der Schule

Eva Juch-Witzer (95) aus Essen-Kettwig: Ich war ja noch ein junges Mädchen von zwölf Jahren, als der Krieg ausbrach – und ich habe das noch sehr vor Augen. Wir lebten in Wittlaer am Rhein und mussten hunderte Male in den Keller. Als unsere Schule zerbombt wurde, lag eine Klassenkameradin mit ihren Eltern tot unter den Trümmern.

Eva Juch-Witzer hat mit mehreren Flüchtlingen unter einem Dach gelebt.
Eva Juch-Witzer hat mit mehreren Flüchtlingen unter einem Dach gelebt. © FUNKE Foto Services | Stephan Eickershoff

Meine Schwester war zehn Jahre älter, sie war mit dem Roten Kreuz als Krankenschwester in Wjasma vor Moskau. Sie hat Glück gehabt, weil sie eine Rippenfellentzündung bekam. Auf dem Heimweg: Vor ihr der Laster flog in die Luft, hinter ihr der Laster flog in die Luft – und sie ist durchgekommen.

Später hatte meine Schwester ein Baby, wir brauchten Milch – und in der Nähe war ein Bauernhof. Zwischen fünf und sieben Uhr war Feuerpause, da bin ich mit der Milchkanne los. Einmal kam ich zu spät und der Beschuss fing schon wieder an. Ich weiß noch, ich habe die Kanne hochgerissen und mich zu Boden geworfen, damit bloß keine Milch verschüttet wurde.

Ich habe erlebt, wie die Flüchtlinge von der anderen Rheinseite an uns vorbeizogen, um sich in Sicherheit zu bringen. Und ein alter Onkel kam mit seiner Haushälterin mit einem Fahrrad von Düren, um bei uns Schutz zu suchen. Den haben wir dann aufgenommen, dazu noch eine Lehrerin aus meiner Schule, die ausgebombt war, eine Schauspielerin kam noch dazu, es war ein buntes Gemisch von Menschen, die bei uns Zuflucht gefunden haben.

Ich möchte auf keinen Fall, dass wir wieder Krieg kriegen.

Pure Angst vor den Bomben

Dr. Renate Bienzeisler, geborene Miethmann, (81) aus Düsseldorf:
Ich schaue die Kriegsberichterstattung im Fernsehen und wenn ich die Flüchtlinge sehe, dann kommen die Erinnerungen. Dann muss ich auch weinen. Ich war ja erst vier Jahre alt, aber man kriegt schon viel mit. Wir sind aus Schlesien geflohen und der Himmel war knallrot und die Bomben fielen. Das war Angst, das war pure Angst bei den Erwachsenen. Es blieb keine Zeit mehr etwas zu erklären. Wenn ich im Fernsehen die Mütter sehe, die weinen... Unsere Mütter haben auch geweint. Das ist jetzt die gleiche Situation. Die Kinder halten manchmal ein Spielzeug fest. Ich hatte auf der Flucht einen Teddy, der war mein Trost.

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Was da passiert, das dürfte im 21. Jahrhundert nicht mehr passieren. Ich sage zu meinem 18-jährigen Enkel: „Krieg ist das Schlimmste, was es gibt.“ Auch die Folgen. Alles, was dann noch kam, als keine Bomben mehr fielen. In meiner Klasse waren die Hälfte der Kinder Halbwaisen, die hatten keine Väter mehr. Auch mein Vater ist nicht mehr aus dem Krieg zurückgekommen.

Meine Mutter wollte wieder heiraten und hat ihn 1947 für tot erklärt. Ich habe als Kind geglaubt, er käme wieder. Lange hatte man uns erzählt, wir müssen warten. Adenauer hat Anfang der 50er-Jahre ganz viele Gefangene ausgelöst aus der Sowjetunion. Jeden Mittag wurden die Namen im Radio verlesen und da habe ich die ganzen Namen mitgeschrieben. Und gedacht, irgendwann kommt Miethmann, aber Miethmann kam nicht…

Ich habe erst vor eineinhalb Jahren damit abschließen können. Ich habe erfahren, dass mein Vater wohl bei einem der schwersten Kämpfe 1944 in der Ukraine dabei war. Hitler hat da die letzten Soldaten verfeuert. Dort ist mein Vater gefallen.

Der Bunker: voll bis obenhin

Horst Weckelmann (88) aus Unna: Ich habe als Kind in Gelsenkirchen den Bombenkrieg miterlebt. Wenn der Fliegeralarm da war, mussten wir in den Kohlenkeller. Und erst, wenn Entwarnung war, durften wir wieder raus.

Horst Weckelmann hat als Kind in Gelsenkirchen den Bombenkrieg erlebt.
Horst Weckelmann hat als Kind in Gelsenkirchen den Bombenkrieg erlebt. © FFS | Ralf Rottmann

Wir Kinder waren evakuiert – und als mein Vater mich dann von dort abholte, gab es einen großen Bombenabwurf über Dortmund, da mussten wir am Dortmunder Hauptbahnhof direkt in einen Keller auf der anderen Straßenseite, wo die Menschen sich schützten. Und der war voll bis obenhin.

Ich werde immer dafür eintreten: Wir müssen um die Erhaltung unseres demokratischen Rechtsstaates kämpfen! Wir sind hier in Deutschland ja froh, dass wir über 75 Jahre in Freiheit und Demokratie leben. Dass wir einen Krieg in Europa noch mal erleben müssen, ist eine Katastrophe. Ich gehe jetzt gleich zu einer Veranstaltung, bei der an die Geschichte gedacht wird.

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Bangen um die Schwester

Renate Klein (82) aus Bochum:
Ich bin Jahrgang 1939 – und als der erste Bombenangriff auf Wanne-Eickel geflogen wurde, sind wir total ausgebombt worden. Wir mussten dann bei der Oma leben. Ich erinnere mich, dass später meine zehn Jahre ältere Schwester mit der Kinderlandverschickung ins Markgräfler Land im Südschwarzwald verschickt wurde. Und dann bekamen meine Eltern ein Telegramm, dass meine Schwester mit schwerer Diphtherie im Krankenhaus liegt – aber das Telegramm selbst war schon 14 Tage unterwegs.

Renate Klein bangte im Krieg um ihre Schwester.
Renate Klein bangte im Krieg um ihre Schwester. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Wir machten uns auf den Weg mit dem Zug, aber die Reise dauerte zwölf Tage – und die ganze Zeit die Ungewissheit, ob meine Schwester noch lebt. Das ist eine ganz furchtbare Erinnerung. Aber als wir ankamen, ging es meiner Schwester schon besser. Ich erinnere mich auch an die Zeit im Bunker, aus dem wir manchmal tagelang nicht herauskamen. Wenn ich jetzt abends nach Hause komme, sehe ich immer, was gerade in der Ukraine passiert. Und das ist immer so traurig…

Im Keller hörte ich Explosionen

Renate Spohr (89) aus Essen:
Den einen Abend habe ich so lange die Diskussionen gesehen im Fernsehen, danach konnte ich nicht mehr gut schlafen. Wie die Menschen in der Ukraine waren wir auch im Keller als Kind. Ich war zwar evakuiert, aber wenn wir zu Weihnachten zu Hause in Essen waren oder in den Ferien und plötzlich ein Bombenangriff kam, dann mussten wir schnell in den Keller. Da war auf Zollverein so ein Bunker, da konnte man, wenn Alarm war, auch hinrennen. Mein Vater war auf Zollverein, es wurden nicht alle Männer kriegsverpflichtet. Er hatte Glück, dass er bleiben konnte.

Die Angst hat man im Alltag verdrängt. Nur wenn es unmittelbar war, wenn man im Keller saß und die Bomben hörte. Da hatte ich Angst, dass sie näher kommen.

Aus der Tragik Kraft schöpfen

Herbert Sabiers (78) aus Wetter:
Ich habe ganz schön Bauchschmerzen bekommen, als ich gehört habe, dass in der Ukraine der Krieg begonnen hat. Und natürlich dachte ich an damals: Im Januar 1944 musste meine Mutter mit uns drei Kindern aus unserer Heimat in Posen flüchten. Mit meinen Großeltern mit Pferd und Wagen sind wir dann über die Oder. Zwischendurch hat sich meine Mutter mit ihrer Schwester, die in Wetter verheiratet war, in Verbindung gesetzt. Am 5. März 1945 kamen wir dort an. Und am 14. April 1945, als in Wetter schon die Amerikaner waren, haben deutsche Soldaten von der anderen Seite der Ruhr mit Granaten geschossen. Sie wollten eigentlich die Amerikaner treffen. Eine Granate flog zu kurz – und direkt ins Dach unseres Zimmers.

Herbert Sabiers erlebte in den letzten Kriegstagen eine große Familientragödie
Herbert Sabiers erlebte in den letzten Kriegstagen eine große Familientragödie © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Meine Mutter hat erzählt, ich habe vor meiner Schwester gesessen. Ich habe ihr zugeguckt, wie sie mit Lappen hantierte. Als die Granate einschlug, ist sie nach vorne auf mich draufgekippt. Sie hat mir so das Leben gerettet. Ich war ziemlich unbeschadet bis auf eine kleine Wunde am Kopf. Meine Schwester Gertrud und mein Bruder Gerhard haben die Explosion nicht überlebt.

Eins habe ich daraus gelernt: Die Tragik als Teil des Lebens anzunehmen, in der Gewissheit, dass immer bessere Zeiten auf einen warten.