Essen/Dortmund. Wer mit digitalen Medien aufgewachsen ist, tickt anders als die Generationen zuvor. Und steht vor Herausforderungen in der realen Arbeitswelt.
Nicht erst seit dem Corona-Homeoffice schreitet die Digitalisierung unserer Arbeit in atemberaubendem Tempo voran. Es prasseln immer mehr Mails und Push-Nachrichten auf uns herab, die Organisation von Arbeitsabläufen wird über Chats abgewickelt, Zoom-Meetings haben viele echte Konferenzen abgelöst, Soziale Medien und Streaming-Kanäle bombardieren uns mit noch mehr Informationen, Informationen, Informationen. Da wird es mal wieder Zeit für die gute, angestaubte Frage: Was macht das mit uns? Und haben sich jene, die mit der ganzen Flut an digitalen Häppchen und Angeboten aufgewachsen und quasi mit dem Handy verwachsen sind, sich nicht schon verändert, bevor sie in den Job einsteigen konnten?
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„Die Jugendlichen scrollen heute an ihrem Smartphone-Display täglich bis zu 173 Meter!“ stellt der Psychologe Rüdiger Maas fest und fügt süffisant-provokant hinzu: „Oft mehr, als sie gehen mögen.“ 120-mal pro Tag entsperrt ein durchschnittlicher Nutzer sein Smartphone, junge Menschen lesen pro Tag ca. 300 Nachrichten, im Gehirn lässt sich bei ihnen feststellen, dass der motorische Kortex sich verändert hat, so dass die Repräsentation der Finger und insbesondere der Daumen heute überproportional vertreten sind. Er spricht sogar von einer neuen Spezies, dem „Homo interneticus“ – und meint das nicht mal als Scherz.
Pro Woche 72,5 Stunden online
Rüdiger Maas hat ein Buch mit dem Titel „Cyberpsychologie in der Arbeitswelt“ geschrieben, das sich eigentlich an Führungskräfte wendet, aber für jeden interessant ist, der mit digitaler Arbeit und Freizeitaktivität beschäftigt ist.
„Wer heute als Digital Native bezeichnet wird, hat seine Jugend ja zum Großteil in der digitalen Welt verbracht. Während der Corona-Zeit waren sie teilweise zehn Stunden täglich im Netz, pro Woche 72,5 Stunden im Schnitt“, sagt er. Zur Verdeutlichung: Das ist so viel wie zwei Vollzeitjobs gleichzeitig.
Vollkommen klar, dass manches zu kurz kommt. „Da bleibt nicht mehr viel Training in der analogen Welt. Man fühlt sich in der digitalen Welt tatsächlich ein Stück wohler. Hinzu kommt, dass die Eltern den Kindern heute sehr viel im Alltag abnehmen. Dadurch wird die analoge Welt doppelt untrainiert. Wenn etwas untrainiert ist, bin ich eben vorsichtiger, brauche mehr Richtlinien. Wenn ich mir dann vorstelle, plötzlich jemanden in der analogen Welt anzusprechen, den ich nicht kenne, so ganz ohne vorher einen Filter zu setzen, dann wird es schwierig. In der analogen Welt kann ich jemanden nicht einfach googeln um zu schauen, wie der aussieht und was der macht. Eine menschliche Interaktion ist immer unberechenbar. Und das scheuen die jungen Menschen vermehrt in der analogen Welt“, so Maas.
Lieber alles per Internet erledigen
Eine solche Verhaltensweise hat immense Auswirkungen etwa auf Vertriebsjobs, wo es notwendig ist, auf fremde Menschen zuzugehen, etwa auf Messen oder in der Kundenakquise. „Junge Leute würden das übrigens auch extrem ineffektiv finden. Die würden das am liebsten per Internet machen.“ So wie sie auch im Privaten viel weniger telefonieren, sondern lieber Sprachnachrichten verschicken und ganze Chats auf diese Weise bestreiten.
Für Ältere mag diese Art der Kommunikation ungewohnt sein, sie ist aber Ausdruck des digitalen Wandels, den Jüngere sehr gut bewältigen. „Man ist sich weitgehend einig, dass die Digitalisierung Schnelligkeit mit sich bringt. Das heißt auch, dass Prozesse schneller veralten. Was dabei wichtiger wird: sich ständig weiter zu qualifizieren. Dass also das Lernen bei der Arbeit einen sehr hohen Stellenwert einnimmt“, sagt Anita Tisch, die sich bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in Dortmund mit dem Wandel der Arbeitswelt beschäftigt.
Viele haben verlernt, sich etwas von anderen abzuschauen
Hier kommen auch die Jüngeren nicht an der Fortbildung vorbei, denn dass sie ständig Apps bedienen, heißt noch nicht, dass sie auch mit komplexerer Software einfacher umgehen können.
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Hinzu kommt: Die Jüngeren haben es in der analogen Welt oft schwerer, die Arbeitgeber müssen viel mehr mit den Berufseinsteigern trainieren, weil sie oftmals nie gelernt haben, sich Dinge von anderen abzuschauen. Psychologe Rüdiger Maas berichtet von einer digital fitten Praktikantin, die im Büro keinen Kopierer bedienen konnte – und die er extra anleiten musste, weil sie nicht einfach anderen zugeschaut hat, die das Gerät bedienten.
Die Interaktion in der Realität hat nicht nur in Bezug auf Dinge, sondern auch auf der zwischenmenschlichen Ebene nachgelassen. Maas: „Man vermutet tatsächlich, dass auch die Empathie, also die Fähigkeit, sich in jemand anderen hineinzuversetzen, ein Stück zurückgeht. Weil ich das natürlich im Digitalen viel schwerer kann.“
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Ein weiterer Effekt: Junge Menschen sind sehr abhängig von Feedback, weil sie es zuhauf aus dem Privaten bekommen. „Es existiert eine Angst, dass ich zu wenige Daumen rauf kriege. Die Like-Industrie bzw. das Addictive Design zielen ja eher auf die Angst, nicht genügend Likes zu bekommen. Jugendliche nehmen Bilder auch wieder offline, wenn sie zu wenig Likes bekommen. Wenn ein 14-jähriger ein Bild postet – und sein Freund postet das gleiche Bild, bekommt aber hunderte von Likes mehr, dann fühlt der sich herabgesetzt“, so der Psychologe. Dieses Verhalten setzt sich später fort.
Neues Leiden: Zoom-Fatigue, die Videokonferenz-Müdigkeit
Klar ist aber auch, und das gilt für alle Generationen, dass sich die Digitalisierungsschraube nicht zurückdrehen lässt. Was sich in der Coronazeit mit Homeoffice-Zwang etabliert hat, wird nicht komplett verschwinden, meint Anita Tisch von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. „Unternehmen planen, Dienstreisen zu hinterfragen, also auch zu reduzieren. Sie planen, Homeoffice auszubauen, auch weil sie in die digitalen Tools investiert haben“, also werden sie bleiben und neue Herausforderungen bringen. „Im Moment sehen wir auch viel Forschung zum Bereich Zoom-Fatigue“, berichtet sie. Darunter versteht man eine zunehmende Videokonferenz-Müdigkeit.
„Videokonferenzen bedeuten teils eine unheimliche Anstrengung, die verbunden ist mit verschiedenen Risiken. Es gibt den offensichtlichen Bewegungsmangel, den man hat, wenn man den ganzen Tag in der Videokonferenz sitzt. Es bedeutet aber auch eine Arbeitsverdichtung: Man hat die Vorbereitungszeit nicht mehr, die Dienstreisen mit sich gebracht haben. Man neigt dazu, sehr viele Videokonferenzen hintereinander an einem Tag ohne Pause zu machen. So viele Besprechungen hätte man vorher nicht absolviert. Das kann zu Überforderung und im schlimmsten Fall zu Burn-out führen.“ Dem könne man aber vorbeugen, so Tisch, indem man seine Arbeitsprozesse bewusster plant.
Rüdiger Maas: Cyberpsychologie in der Arbeitswelt. Was Führungskräfte über die Auswirkungen des Internetkonsums wissen müssen. Carl Hanser Verlag, 208 S., 39,99 €