Essen. Die Nationalmannschaft, die 1972 die EM gewann, gilt bis heute als spielstärkste deutsche Elf überhaupt. Über ein Team, das perfekt harmonierte.

Ramba-Zamba. Der Boulevard braucht solche Schlagwörter, und für die zuvor so noch nicht gesehene Art des Fußballs fand er diesen Begriff damals ganz passend. Ramba-Zamba, das war das perfekte Zusammenspiel zwischen dem Libero, dem in den komplexen Systemen von heute nicht mehr existierenden letzten Mann, und dem Mittelfeld-Regisseur, dem Strategen alter Prägung. Ramba-Zamba, das waren Franz Beckenbauer und Günter Netzer. Die Ballgenies, die das als spielstärkste deutsche Nationalmannschaft der Fußballgeschichte gerühmte Europameister-Team von 1972 anführten.

Münchener der eine, Mönchengladbacher der andere. Die Köpfe der beiden Blöcke. Die von Helmut Schön auserwählte glorreiche Elf bestand im Wesentlichen aus einer Mischung der beiden großen Bundesliga-Mannschaften jener Jahre. Sechs Bayern bildeten das große Gerüst. Zu Franz Beckenbauer, Gerd Müller, Sepp Maier, Georg Schwarzenbeck sowie den beiden aufstrebenden Jungstars Paul Breitner und Uli Hoeneß passten ideal die drei Gladbacher Günter Netzer, Jupp Heynckes und Herbert Wimmer.

Triumph bei der EM 1972: „Hacki, hol schon mal den Ball“

Es wären ziemlich sicher auch vier Borussen gewesen, wenn sich Berti Vogts vorher nicht langfristig verletzt hätte. So aber kam auch der Bremer Abwehr-Routinier Horst-Dieter Höttges zu Europameister-Ehren, und der elfte Mann war einer, den man heute als „jungen Wilden“ skizzieren würde: Der Schalker Erwin Kremers, ein flotter und trickreicher Linksaußen.

Weitere Texte aus der Serie „1972 – ein Jahr schreibt Geschichte(n)“:

Der heute 72-Jährige schwärmt, wenn er 50 Jahre zurückdenkt. „Es war toll, in dieser Mannschaft zu spielen“, sagt er. „Fußball ist doch am schönsten, wenn nach vorne gespielt wird. Franz Beckenbauer und Günter Netzer verstanden sich blind.“ Und ganz vorne hatten sie Gerd Müller, der die Vorarbeiten veredelte. „Er war ein wunderbarer Kerl“, sagt Erwin Kremers.

War das eine perfekte Mannschaft? Kann es die überhaupt geben? Vermutlich nicht, aber jene kam dem höchsten Anspruch schon reichlich nahe. Wie leichtfüßig das alles aussah. Das Fußballspiel als Komposition, jeder fügte sich in das ausgedachte Werk ein. Es gab ja nicht nur die prominenten Ballkünstler, es gab auch Zuarbeiter, ohne deren Bereitschaft zur Selbstaufopferung das ganze Gebilde keinen Bestand gehabt hätte. Herbert Wimmer, genannt Hacki, wurde beispielsweise als Günter Netzers „Wasserträger“ beschrieben, und er hatte kein Problem damit. „Harry, hol schon mal den Wagen“ – das war der Kultspruch, der mit der TV-Serie Derrick verbunden wurde. „Hacki, hol schon mal den Ball“ – das war das Ansinnen des großen Gestalters Günter Netzer, der sich das Spielgerät bringen ließ, um es auf unvergleichliche Art weiterzuleiten.

„Kaiser“ Franz Beckenbauer hätte ohne „Katsche“ Schwarzenbeck nicht brillieren können

Und was wäre der „Kaiser“ ohne „Katsche“ gewesen? Franz Beckenbauer, majestätisch im Auftreten, mit gestrecktem Oberkörper und dem Blick nach vorn, während das Spielgerät am Fuß zu kleben schien, schien bei der Arbeit nicht zu schwitzen. Vermutlich hätte er sein Trikot nach dem Abpfiff mit Bügelfalte wieder zurück in den Schrank legen können. Denn fürs Schmutzigmachen, fürs Grätschen, Rackern und Malochen, hatte er „Katsche“ Schwarzenbeck. Den Mann fürs Grobe.

Heute undenkbar: Schon vor dem Abpfiff belagerten die Fans das Spielfeld. Nach dem Schlusspfiff gab es kein Halten mehr. Werner Baumpicture
Heute undenkbar: Schon vor dem Abpfiff belagerten die Fans das Spielfeld. Nach dem Schlusspfiff gab es kein Halten mehr. Werner Baumpicture © picture alliance / dpa | Werner Baum

Die Rollen waren viel klarer verteilt in jenen Jahren. Heute muss ein Abwehrspieler Angriffe eröffnen, und wehe, der Stürmer rast nach einem Ballverlust nicht sofort mit zurück. Überhaupt war fast alles anders 1972, als die Europameisterschaft noch nicht in einem mehrwöchigen Turnier mit 24 Teams, sondern in einer Endrunde mit nur vier Teilnehmern entschieden wurde.

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Diese kurze Zusammenkunft wurde vom 14. bis zum 18. Juni in Belgien ausgetragen, den Gastgeber Belgien besiegte die deutsche Mannschaft im Halbfinale mit 2:1, und so stand sie im Finale in Brüssel gegen das Team der Sowjetunion, das sich mit 1:0 gegen Ungarn durchgesetzt hatte. Als vor diesem Finale die Hymnen gespielt wurden, stellten sich zwei von 55.000 Zuschauern hinter die deutsche Mannschaft. Sie hielten ein Transparent hoch, darauf stand: „Wir sind von Bingen angereist, auf daß der Europameister Deutschland heißt.“ Das stelle man sich mal heute vor.

Helmut Schön über die Mannschaft von 1972: „Ihren Stil zu halten, ist mein größter Wunsch in dieser Stunde“

Als dann der Ball rollte, spielten sich die Deutschen in einen Rausch. Der 3:0-Sieg durch zwei Tore von Gerd Müller und einen Treffer von Herbert Wimmer war hochverdient. Jetzt rückten ganz viele Fans vor, schon Minuten vor dem Abpfiff war der gesamte Platz von Menschen umrandet, die nur darauf warteten, auf ihre Helden loszurasen. Sicherheitsvorkehrungen? Ein Fremdwort.

Helmut Schön wurde noch nach der Zukunft dieser Mannschaft gefragt. „Ihren Stil zu erhalten, ist mein größter Wunsch in dieser Stunde“, sagte der Bundestrainer. Es gelang ihm nicht ganz. Dennoch wurde Deutschland zwei Jahre später im eigenen Land auch Weltmeister, im Endspiel aber waren nur noch sechs Europameister von 1972 dabei. Es waren die sechs Bayern.

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