Düsseldorf. 1972 ist die Sozialdemokratie so stark wie nie zuvor, Willy Brandt ist ihr Superstar. Dabei schien kurz zuvor schon alles verloren zu sein.
Am Abend des 19. November 1972 lässt sich Willy Brandt in Bonn von seinen Anhängern am Palais Schaumburg, dem Amtssitz des Kanzlers, feiern. Fast schüchtern reichen sich Brandt und Vizekanzler Walter Scheel (FDP) die Hände, als könnten sie diesen überwältigenden Sieg noch nicht richtig fassen. Besonders die SPD jubelt, sie ist mit 45,8 Prozent erstmals stärkste Partei im Bundestag.
Der alte und neue Kanzler wiederholt eine Botschaft, die er drei Jahre zuvor schon nach einer Bundestagswahl äußerte und die – neben dem Motto „Mehr Demokratie wagen“ – wie eine Überschrift über der Ära Brandt steht: „Nun gehen wir gelassen, doch mit Freude an die Arbeit für unsere Bundesrepublik Deutschland, für den Frieden, dem Wort verpflichtet, mit dem wir uns im Herbst 1969 auf den Weg machten: Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein. Im Innern und nach außen.“
Willy Brandt: Friedensnobelpreis-Träger und Wegbereiter der deutschen Einheit
Die Saat für diese Friedenspolitik ist längs gelegt. Ein Jahr zuvor war Brandt in Oslo mit dem Friedensnobelpreis geehrt worden, zwei Jahre zuvor kniete der deutsche Kanzler im ehemaligen Warschauer Ghetto für die Opfer des Nationalsozialismus nieder.
Der deutsche Regierungschef und sein Team öffneten Verhandlungskanäle nach Moskau, Warschau und Ost-Berlin, und aus heutiger Sicht wurden sie zu Wegbereitern der deutschen Einheit. Die 72-er Wahl gibt dem Regierungschef, der im Inland von Teilen der Bevölkerung angefeindet wird, das Gefühl von Wertschätzung. Gesellschaft und Politik sind in dieser Zeit tief gespalten.
Trotz Misstrauensvotum: Sozialdemokratie am Zenit ihrer Macht
Die Regierung Brandt übersteht im April 1972 nur äußerst knapp das Konstruktive Misstrauensvotum der CDU/CSU unter ihrem Frontmann Rainer Barzel. Noch jahrelang wird darüber gestritten und prozessiert werden, wie es der Regierung gelang, eine schon verloren geglaubte Abstimmung noch zu gewinnen.
Von gekauften Stimmen ist die Rede und davon, dass die Stasi der DDR ihre Finger im Spiel hatte. Aber am Ende des Jahres 1972 scheint alles gut zu sein für die SPD. Die Sozialdemokratie steht im Zenit ihrer Macht.
Neid, Intrigen und Anfeindungen: Brandts tiefe Verzweiflung
Niemand ahnt an diesem Wahlabend, dass Willy Brandt nicht mehr lange Kanzler sein wird. Hinter den Kulissen arbeiten viele Kräfte gegen ihn, auch in der eigenen Partei. Helmut Schmidt und Herbert Wehner stehen nicht loyal zum Kanzler, und das mag auch etwas mit Neid zu tun gehabt haben, glaubt Albrecht Müller, 1972 Wahlkampfmanager und Vater der legendären „Willy wählen“-Kampagne von 1972: „Schmidt und Wehner konnten es nicht ertragen, dass Brandt einen so guten Draht zu jungen Menschen hatte.“
Vor und nach der Wahl 1972 trieben Intrigen und Anfeindungen Brandt zeitweise in tiefe Verzweiflung. Ob es eine Depression war, darüber streiten Zeitzeugen bis heute. Brandts Wegbegleiter Egon Bahr schrieb in seinen „Erinnerungen“, es habe sich nur zum Teil um eine depressive Phase gehandelt. „Seit ich Brandts Lebensweg verfolge, erlebe ich ihn als einen Menschen, der ständig unter Druck steht“, so Bahr.
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Duisburger SPD-Ortsvereinsvorsitzender: „Brandt wirkte fast wie ein Heilsbringer.“
Ulrich Thünken (76), früherer SPD-Ortsvereinsvorsitzender in Duisburg-Duissern, hat den anderen, den begeisternden Willy Brandt erlebt. Er erinnert sich an einen Auftritt des Kanzlers 1971 in Duisburg: „Der Platz vor Stadttheater und Mercatorhalle war an diesem warmen Sommerabend voller Menschen. So viele Menschen habe ich noch nie auf einem Fleck gesehen. Brandt wirkte fast wie ein Heilsbringer“, erzählt Thünken.
Ob Brandt ein geschliffener Redner war oder nicht, wisse er nicht mehr, so Thünken. Aber er sei auf eine besondere Art in der Lage gewesen, die Menschen zu fesseln und ihnen Hoffnungen auf Veränderung zu machen. Willy Brandt habe Aufbruchstimmung ausgelöst, betont Thünken, der nach dem Studium Lehrer wurde und im Schulministerium arbeitete. Als die SPD 1972 die Wahl gewann, war Thünken schon zwei Jahre SPD-Mitglied.
SPD-Chef Kutschaty: „Willy Brandt war auch als SPD-Parteivorsitzender ein ganz Großer.“
„Brandt und Schmidt waren die Kanzler meiner Kindheit“, erinnert sich Thomas Kutschaty (53), heute Chef der NRW-SPD, Fraktionsvorsitzender im NRW-Landtag und Spitzenkandidat der SPD für die Landtagswahl 2022. „Mit der CDU konnte in unserer Siedlung keiner was anfangen, erst recht als Helmut Kohl kam. Der Weg führte mich also in meiner Jugend zur SPD.“
Ausschlaggebend für Kutschatys Einstieg in die Politik seien große Parteiveranstaltungen in Essen gewesen. „Zusammen mit meinem Vater habe ich gesehen, wie Brandt mit anderen Größen wie Johannes Rau aus der Dampfbierbrauerei in Borbeck kam. Da war ich ganz schön aufgeregt. Denn Willy Brandt war auch als SPD-Parteivorsitzender noch immer ein ganz Großer.“
Der Optimismus aus der Wahl 1972 schwand schnell, 1974 trat Brandt in der Folge der „Guillaume-Affäre“ zurück. Ein DDR-Spion im unmittelbaren Arbeitsumfeld des Kanzlers war enttarnt worden. Was ist heute von Willy Brandt und vom Triumph 1972 geblieben?
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Was ist heute von Willy Brand geblieben?
Ulrich Thünken fällt die Antwort nicht leicht. Vieles, was damals neu war, sei heute selbstverständlich, sagt er. „Politik ist transparenter geworden, Menschen haben keine Hemmungen mehr, mitzureden. Heute traut sich doch jeder Abiturient, vor anderen Menschen etwas zu sagen.“
Viele der Träume von damals hätten sich allerdings nicht erfüllt. „Auch heute noch sind relativ viele Menschen in der Gesellschaft abgehängt. Das Versprechen von Chancengleichheit haben wir nicht eingelöst. In den 70-er Jahren gab es womöglich mehr Möglichkeiten zum Aufstieg als heute“, meint der Duisburger.
„Oben und Unten sind wieder klar abgegrenzt. Heute heiratet man in der Regel in der Schicht, aus der man kommt. In meiner Uni-Zeit gab es eine Professorin, die einen Arbeiter geheiratet hatte. Ich glaube, heute ist das ungewöhnlicher als damals.“ 1972 aber sei ein Jahr voller guter Erinnerungen und Hoffnungen, sagt Thünken: „Ich war in einer Bewegung, die gesellschaftlich nach vorne ging, und Willy Brandt war das Symbol dafür.“
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