Essen. Zudem unterstützen Eltern zu wenig beim Digitalen, so der Psychologe Rüdiger Maas. Mit seinem Buch will er aufrütteln: „Generation lebensunfähig“.
Aufrütteln möchte er. Zur Diskussion anregen. Aussprechen, was sich kaum einer zu sagen wage. Er möchte die heutigen Eltern aufwecken. Deswegen habe er einen radikalen Titel für sein neues Buch gewählt, so der Psychologe Rüdiger Maas: „Generation lebensunfähig. Wie unsere Kinder um ihre Zukunft gebracht werden.“
„Wenn man Hilfe schreit, kommt oft keiner. Wenn es wichtig ist, muss man eben ‚Feuer‘ schreien, denn dann ist die Aufmerksamkeit höher“, begründet Maas. Er zeichnet ein düsteres Bild der Gesellschaft: „Wir werden immer gesättigter, wir werden immer älter, vielleicht werden wir auch immer fitter, aber wir werden nicht glücklicher.“ Seine und andere Studien besagten, dass in Deutschland die Generation der Über-60-Jährigen zurzeit am glücklichsten sei. Bei den Jüngeren nehme die Zufriedenheit weiter ab.
Am unglücklichsten seien diejenigen, die jetzt Kinder sind. „Unsere Kinder wachsen in einem noch nie da gewesenen Reichtum auf“, schreibt er. „Es gab bis heute keine vergleichbare Generation, die durchschnittlich über ein solches Maß an Gütern und Möglichkeiten verfügte.“ Auch der technische Überfluss gehöre dazu. Jedes vierte Kind sei heute dabei aber unglücklich und zeige depressive Symptome: Sie hätten Schwierigkeiten, Freunde zu finden, vollständige Sätze zu bilden, sich selbst zu beschäftigen, durchzuhalten, mit Problemen konstruktiv umzugehen.
Das Digitale wird wichtiger
Dabei teilt Maas das Geschehen in digitale und analoge Räume ein. Das Digitale nehme immer mehr Zeit in Anspruch, aber die jetzige Elterngeneration schaffe es weder, ihren Kindern diesbezüglich Orientierung zu geben – weil sie von der Geschwindigkeit der Entwicklung und den Möglichkeiten überfordert sei –, noch im Analogen, weil sie aus einer Ängstlichkeit, einem verlorenen Bauchgefühl, einem Fehlen des natürlichen Bezugs zu den Dingen auch hier keinen echten Halt böte.
Offen lässt Rüdiger Maas dabei, wen er genau als „lebensunfähig“ ansieht: die heute heranwachsende Generation oder deren Eltern. „Die Digitalisierung wird immer weiter voranschreiten“, beobachtet der 42-Jährige, „und wir werden immer weniger Räume haben, die nicht digital bespielt sind. Und da könnten auch wir Älteren aus der Perspektive des Digitalen die Lebensunfähigen sein. Die Jüngeren hingegen finden sich aus unserer Perspektive immer weniger in der analogen Welt zurecht.“
Das Verhalten der Jungen verstehen
2017 hatte der Arbeits- und Organisationspsychologe gemeinsam mit seinem Bruder Hartwig, einem Wirtschaftswissenschaftler, das private „Institut für Generationenforschung“ in Augsburg gegründet. Den Impuls dafür fasst er so zusammen: „Immer mehr Unternehmer, Personalentscheider aus Wirtschaft und öffentlichem Dienst, Politiker, Journalisten, Schuldirektoren, besorgte Eltern fragten mich, ob ich ihnen als Psychologe und Generationenforscher erklären kann, warum sich die jungen Nachwuchskräfte so verhalten wie sie es eben gerade tun. Sie selbst verstehen die jungen Menschen der Generation Z nicht mehr.“
Als Generation Z bezeichnet er die „Digital Natives“, diejenigen, die zwischen 1995 und 2010 geboren wurden. Es folgten Studien zu den Generationen X (1965 bis 1980), Y (1980 bis 1994), den Babyboomern (1950 bis 1964) und zuletzt zur Generation Alpha, die jetzt Kind sind. Unter dem Dach des Instituts arbeiten Psychologen, Philosophen, Soziologen, Manager, Politologen. Die Studien und Zielgruppenanalysen wurden auf Anfrage von Unternehmen durchgeführt, in Vorträgen und Workshops erklären die Brüder Maas zum Beispiel, wie Arbeitgeber verschiedene Generationen motivieren können.
Auf die Frage, nach welchen Kriterien man Generationen einteilen kann, erklärt der Psychologe: „Wir sehen das anders als viele Populärwissenschaftler, die alle 15 Jahre neue Generationen auf den Markt bringen. Wir schauen uns immer die Umgebungskomponenten an und dabei vor allem zwei Faktoren: gesellschaftliche Bedingungen und technischer Fortschritt.“ Zum einen sei wichtig, wie geburtenstark die Jahrgänge sind und welcher Konkurrenz sie in Schule, Studium oder bei einer Bewerbung ausgesetzt sind. Der zweite wichtige Faktor sei der Grad der Digitalisierung: Die „Babyboomer“ und die „Generation X“ seien analog aufgewachsen und kamen mit Internet und Smartphone erst im Erwachsenenalter in Berührung.
Die jüngste Generation Alpha hingegen kann sich ein Leben, in dem diese Dinge keine Rolle spielen, gar nicht vorstellen – sie kennt es nicht anders. Und dazwischen stehe die Generation Y, die analog aufgewachsen ist, aber in der Jugend das Digitale mitgenommen hat und dadurch stark geprägt wurde – und die jetzt Eltern der Jüngsten sind.
Diese Elterngeneration zeichne sich dadurch aus, dass „sie es so perfekt machen möchte, wie irgend möglich“, sagt Maas. „Dabei greifen viele auf unzählige Erziehungsratgeber und auch das Internet zurück und vertrauen oft gar nicht mehr auf sich selbst. In unseren Befragungen haben wir aber immer wieder festgestellt, dass das zusätzlich verunsichert. Es gibt also einen klaren Anstieg der Unsicherheit bei denen, die jetzt Kinder erziehen.“
Ethische Grundsätze fehlen
Die Kernaussage seines Buches fasst Maas so zusammen: „In der analogen Welt überbehüten viele Millennials ihre Kinder. Das führt dazu, dass die sich dort immer unsicherer fühlen. Und in der digitalen Welt lassen sie ihre Kinder oft völlig allein mit diesen enormen Dingen, die das Netz hergibt.“ Und das, aufgrund der rasanten Geschwindigkeit, in der sich das Digitale entwickelt, ohne die Gefahren wirklich überschauen oder kontrollieren zu können, so Maas. Im Unterschied zu den Generationen zuvor bewege sich die Jugend von heute zwischen zwei Welten, der analogen und der digitalen, wobei sie sich in der digitalen völlig anders verhielte: ohne ethische Grundsätze.
Eine Hauptaufgabe der Elterngeneration sei, den Kindern die analoge Welt wieder nahezubringen und ihnen mehr Sicherheit zu vermitteln. „Sie sollten die Überbehütung in der digitalen Welt mehr aufbauen, mehr darüber sprechen und teilhaben, in der analogen Welt aber mehr abbauen.“ Er plädiert für Verzicht, dafür, Langeweile wieder zuzulassen, Kinder ernst zu nehmen, ihnen Grenzen zu setzen und ihnen Alternativen zu der digitalen Welt aufzuzeigen. Zudem sollten Eltern selbst mehr aus dem Bauch heraus handeln, statt Ratgeber zu befragen.
>> „Es gibt immer mehr verhaltensauffällige Kinder“ – Gespräch mit einer Sozialpädagogin
Was Rüdiger Maas da beschreibe, erlebe sie jeden Tag in ihrer Praxis, erzählt Veronika Onasch. Seit 2011 betreibt die diplomierte Heil- und Sozialpädagogin eine Psychotherapeutische Praxis für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in Bochum-Ehrenfeld. Sie sagt: „Es kommen immer mehr junge Menschen zu mir. So viele ängstliche Kinder habe ich noch nie erlebt. Der Leidensdruck ist groß. Sie kommen mit Depressionen, Ängsten oder Verhaltensauffälligkeiten, die sie daran hindern, am Leben teilzuhaben.“
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Soziale Probleme, sich nicht in Gemeinschaften einfügen zu können, diagnostiziert die 65-Jährige häufig. „Und ich sehe auch viele Prinzen und Prinzessinnen. Aber die echte Welt ist anders, als sie von ihren Eltern vermittelt bekommen.“
Sie bestätigt: In den ersten Jahren bekämen die Kinder alles an materiellen Gütern, was auch immer sie sich wünschen. Weil aber alles immer teurer werde und ein Einkommen oft nicht ausreiche, hätten die Eltern immer weniger Zeit für ihren Nachwuchs. Es gebe eine Entwicklung weg vom Kind. Dabei sieht auch sie eine große Gefahr im Digitalen: „Ich kann konsumieren und erleben, ohne selbst zu erleben. Weil Kinder aber erleben wollen, macht das auf Dauer phlegmatisch und antriebslos.“
Die Pandemie sieht sie ähnlich kritisch wie es Maas tut. Corona sei nicht der Auslöser dieser Entwicklung, aber die Pandemie verstärke sie: Die Ängste und Sorgen der Eltern übertrügen sich auf die Kinder. „Den Kindern wird dabei eine Verantwortung gegeben, der sie nicht gewachsen sind.“