Hamm. Für die einen Schandfleck, für die anderen Abenteuerland: Verlassene Orte. Daniel Boberg fotografierte sie. Ein Blick in sein neues Buch.

Für die Nachbarn ist das verfallene Schraubenwerk einfach ein „Schandfleck“, das Rathaus Herne spricht aber viel lieber vom „großen Entwicklungspotenzial“ der Ruine. Von Stadtverwaltungsdeutsch ins Deutsche übersetzt, bedeutet die Floskel: Da ist alles kaputt. So sieht es tatsächlich aus: Die Hallen sind tot und skelettiert, darin Schutt, aus dem Grün wächst, leere Fensterhöhlen, umgestürzte Möbel, Scherben, Graffiti. Daniel Boberg liebt es.

Dunkle Ecken, nasse Keller, unerklärliche Geräusche, menschenleer – wie schön! Boberg, Fotograf aus Hamm, hat im Jahr 2020 verlassene Orte im Ruhrgebiet gesucht, gefunden und fotografiert. Jetzt ist daraus ein Fotoband geworden: „Verlassene Orte im Ruhrgebiet. Lost Places – Die Faszination des Vergänglichen.“ Viele Bilder, wenig Text.

Eine Puppe wie im Horrorfilm

Als ob hier gerade noch jemand Kaffee getrunken hätte: ein verlassener Waggon.
Als ob hier gerade noch jemand Kaffee getrunken hätte: ein verlassener Waggon. © Daniel Boberg | Daniel Boberg

Vergessene Orte. Zumeist Industrieruinen hat Boberg ausgesucht, aber auch ein früheres Restaurant und einen Bauernhof. Unrentabel geworden, geschlossen, vergessen. Verfall zeigt sich auf fast allen Fotos, aber auch Zerstörungswut. Brandspuren, Einbruchsspuren, Sprühflächen, verwüstetes Mobiliar, umgestürzte Einkaufswagen. Eine Puppe wie aus einem Horrorfilm. Klassische Angsträume. Und nie ein Mensch. Nie.

Dabei reizen den 33-Jährigen nicht die leeren Räume an sich, sondern die Hinterlassenschaften des Lebens, das es hier einmal gab. „Um nachzuvollziehen, wie dort gelebt und gearbeitet worden ist.“ Wer mag in dem früheren Sprengstoff-Versuchslabor das Fachblatt „Angewandte Chemie“ von November 1965 gelesen haben – und warum liegt es noch auf dem Tisch und ist so gut erhalten nach 56 Jahren? Warum blieben in der verlassenen Gießerei Kaffee und Kaffeemaschine zurück, ein Fernseher, Bücher? „19.09.2018 Letzte Charge“ steht auf einer Tafel.

Boberg war schon dort, da nannte man sie noch gar nicht „Lost Places“.

Die Zeit steht still. Und doch lassen Uhr, Kalender und Regal erahnen, wie viel Leben hier einst herrschte.
Die Zeit steht still. Und doch lassen Uhr, Kalender und Regal erahnen, wie viel Leben hier einst herrschte. © Daniel Boberg | Daniel Boberg

Boberg steht ja nicht allein mit seiner Leidenschaft. Auch andere fotografieren gern verlassene Orte; und wieder andere besuchen sie systematisch. Möglichst allein oder in kleinen Gruppen, möglichst im Dunkeln: Denn die im Dunkeln sieht man nicht. Wenn Sie mal wieder in der Zeitung lesen, dass ein Mensch nachts durch ein Hallendach gestürzt ist und tot – das ist schon mehr als einmal passiert auf solchen Touren.

Das Interesse ist so groß, das ganze Internet-Seiten mit Kategorien werben wie „Die aufregendsten Lost Places in NRW“ oder „Top 10 verlassene Orte“. Das alles wird sicher in absehbarer Zeit zu Kreationen führen wie „Die verlassensten Orte.“

Daniel Boberg hat solche Orte schon besucht, da nannte man sie noch gar nicht ,Lost Places’. „Ich fand es wahnsinnig spannend, dort auf Erkundungstour zu gehen“, schreibt er in der Einleitung des Buches: „Seitdem hat mich die Faszination dieser menschenleeren Orte nicht mehr losgelassen.“ Seine Bilder sieht er als „Zeitzeugen des Verfalls“.

Der Gruselbauernhof, die verlassene Gießerei, das zerstörte Fast-Food-Restaurant

Das alte Schraubenwerk. Nicht alle Herner sehen darin ein „großes Entwicklungspotenzial“.
Das alte Schraubenwerk. Nicht alle Herner sehen darin ein „großes Entwicklungspotenzial“. © Daniel Boberg | Daniel Boberg

Es sind die durchs Raster gefallenen Verlierer der Industriekultur-Bewegung. Niemand hat sie für etwas Besonderes gehalten, hat sie renoviert, hat sie begehbar und sicher gemacht. Im Prinzip ist auch Zollverein ein Lost Place, hat das Bergwerk doch seine Bestimmung und seine Belegschaft verloren. Aber es warf sich dem Tourismus in die Arme und ist dadurch das Gegenteil eines verlassenen Ortes geworden.

Doch zurück zu den Ruinen. Neugier, Nervenkitzel, und ein Hauch von Angst: Darum wohl geht es den meisten Männern und Frauen, die durch verlassene Orte schleichen. Dass sie manchmal verbotenes Terrain betreten, ist ihnen bewusst; eine Frau gruselt sich vor allem davor: „Wenn du auf einmal Geräusche hörst, fragst du dich schon, ob die Polizei oder Eigentümer auftauchen.“ Ja, schauderhaft.

Mit neun Gebäudekomplexen macht Boberg seine Leser bekannt: der Gruselbauernhof, die verlassene Gießerei, das zerstörte Fast-Food-Restaurant. Das „liegt hinter zwei weiteren Restaurants auf einem kleinen Autohof“. Konkreter wird er nicht. Man sieht es schon: Er lokalisiert die Ruinen nicht, na ja, die meisten nicht. Die genauen Standorte im Dunkeln zu lassen, gehört zum Ehrenkodex der Szene.

Zu viel Betrieb an den bekannteren Adressen

Ihn fasziniert das Vergängliche: Daniel Boberg bei der Arbeit.
Ihn fasziniert das Vergängliche: Daniel Boberg bei der Arbeit. © Daniel Boberg | Daniel Boberg

Allzu bekannte Adressen führen denn auch dazu, dass man auf seinen spannenden Entdeckertouren noch 50 andere gespannte Entdecker trifft. Das wird sehr deutlich bei Bobergs enttäuschter Beschreibung einer alten Schraubenfabrik an der Ennepe: „Rechts von mir steht eine Familie mit zwei kleinen Kindern. Links steigen zwei Senioren die Treppe herauf . . . Fotos und Videos aufzunehmen, ist nicht gerade einfach, wenn einem ständig jemand ins Bild läuft.“

Für Nachahmer hat Boberg einige Tipps zur Hand: Vor allem, zu gucken, wem das Gebäude oder das Gelände gehört. „Ich bin ein großer Freund davon, vorher einfach mal zu fragen.“ Denn vielleicht darf man ja ganz offiziell hinein. Weiter empfiehlt er: feste Schuhe anzuziehen wegen der überall drohenden Scherben, Spritzen und Nägel. Eine Atemschutzmaske wegen eventuellen Schimmels. Nicht allein zu gehen, damit man im Fall eines Unfalls Hilfe hat, Rettung alarmiert werden kann. Und schließlich: nichts kaputtzumachen oder mitzunehmen, um die Authentizität des Ortes zu erhalten.

Dominant ist immer: herausgerissene Technik, Schimmel, Schmutz

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Dann bleiben tatsächlich die Spuren erhalten. In der Ruine der Drahtzieherei stehen noch Blumenvasen, auf dem Boden liegt ein verschimmelter Schuh, an der Wand hängt ein Püppchen. Im Eingang des Bauernhofs stehen ein Foto zweier Frauen und ein Spielzeugauto. Die Horror-Puppe überblättern wir lieber schnell. Noch ein Schuh, ein Tuch mit der Aufschrift ,Disney Princess’. Aber dominant ist immer das andere: herausgerissene Technik, Schimmel, Schmutz.

Doch fahren wir nochmals zurück nach Herne, zu dem alten Schraubenwerk mitten in der Innenstadt. Tatsächlich ist an diesem Samstag wieder an einer Stelle das Absperrgitter verschoben, zwischen zwei Elementen klafft ein Loch, durch das man bequem hineingehen kann, die Kette liegt am Boden. Jemand ist da drin. Faszination Vergänglichkeit. Rost places. Rost never sleeps.

Daniel Boberg: Verlassene Orte im Ruhrgebiet. Lost Places - Die Faszination des Vergänglichen, Sutton Verlag, 162 S., rund 170 Aufnahmen, 29,99 €