Gelsenkirchen. Hospiz klingt nach Tod. Dabei ist es ein Ort, an dem Menschen auch Lebensfreude finden. Ein Besuch in Gelsenkirchen, wo auch Korken knallen.

„Ich bin so eine zufriedene Frau, das glauben sie nicht“, sagt Bärbel Berger. Sie liegt in ihrem Bett und strahlt die Besucher an, ja sie leuchtet geradezu von innen heraus. „Ich spüre hier Ruhe, Zufriedenheit und die Herzenswärme der Mitarbeiter. Wenn man so behütet wird, ist es eine Freude.“ Die 81-Jährige sieht schön aus. Zum roten Shirt passt die rote Decke, die Bettwäsche. Es ist ihre eigene, die sie mitgebracht hat. Das war ihr sehr wichtig – und überhaupt kein Problem. „Meine Familie sagt immer, ich bin eine rote Maus“, sagt Bärbel Berger und strahlt wieder.

Sie mag Rot: Bärbel Berger, die „rote Maus“, im Hospiz in Gelsenkirchen. Die 81-Jährige sagt: „Ich bin mit mir im Reinen.“
Sie mag Rot: Bärbel Berger, die „rote Maus“, im Hospiz in Gelsenkirchen. Die 81-Jährige sagt: „Ich bin mit mir im Reinen.“ © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Die charmante Dame lebt seit 14 Jahren mit Krebs. Vor ein paar Tagen ist sie eingezogen ins „Emmaus Hospiz“ in Gelsenkirchen, einer Einrichtung mit zehn Zimmern, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, sich um sterbende Menschen liebevoll zu kümmern. „Wir wollen die Menschen auf ihrem Weg begleiten“, erklärt Michael Rohr, Sozialarbeiter aus dem Leitungsteam. Dabei ist die Einrichtung kein Trauerhaus, vielmehr ein geschützter Lebensraum mit vielen freudigen Momenten. Kleineren wie größeren.

Ein kleines Fest, ein Lieblingsessen

„Mal feiern wir ein kleines Fest, mal wünscht sich jemand sein Lieblingsessen. Letzte Woche erst hat sich ein Bewohner frischen Milchreis gewünscht. Den haben wir dann hier gekocht und in kleinen Schälchen serviert mit frischen Früchten.“ Essen, das ist ein wichtiges Thema. „Denn wer isst, der lebt.“ Und so bieten die Mitarbeiter immer mal Leckereien an. Manch ein Gast sei so sehr gezeichnet von seiner Krankheit, dass er kaum mehr essen könne. „Dann kann es auch dieser eine Bissen sein, den man im Mund zergehen lässt, der wunderbare Geschmack, der dann ein ganz sinnliches Erlebnis ist.“

Es ist kurz vor fünf Uhr. Zeit für einen Aperitif: „Wir erlauben uns, ihnen ein kleines Schlückchen anzubieten“, sagt Rohr. Er ist in das erste Gästezimmer mit einem Barwagen gefahren. Der erinnert an einen historischen Reisekoffer, in dem es klimpert. „Wir haben Rotwein, ein kleines Likörchen oder einen Amaretto.“ Die Bewohnerin des Zimmers wünscht sich „was Kleines, Süßes“ und freut sich über den Mandellikör. Erst wird geschnuppert, dann gekostet – und wenig später mit dem Besuch im Zimmer fröhlich gekichert.

Hier wird mit Passion geraucht

Das „Emmaus-Hospiz“ ist eine kleine Welt für sich, ein Ort, an dem alles erlaubt ist und vieles möglich gemacht wird. „Der Mensch steht im Mittelpunkt. Gerade hier sind wir bemüht, jeden einzelnen so anzunehmen, wie er ist. Hier sind jeden Abend die Aschenbecher voll“, sagt Rohr und weist mit der Hand auf den großen Balkon. „Weil hier mit Passion geraucht wird. Und wenn jemand nicht mehr allein rausgehen kann, dann fahren wir die Gäste mit dem Bett hinaus und legen ihnen eine Löschdecke über die Bettdecke.“

Erinnerungen: Bärbel Berger als 19-Jährige. Den Holzengel hat ihr „Holzwurm“ geschnitzt, wie sie liebevoll ihren Sohn nennt.
Erinnerungen: Bärbel Berger als 19-Jährige. Den Holzengel hat ihr „Holzwurm“ geschnitzt, wie sie liebevoll ihren Sohn nennt. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Denn es geht nicht mehr darum, Menschen zu einer „besseren“ Lebensweise zu bekehren. Es geht darum, ihnen in den letzten Tagen und Wochen bei aller Tragik ein Gefühl großer persönlicher Freiheit zu geben. „Wir hatten auch mal einen Herrn bei uns, der war so naturverbunden, der wollte draußen leben. Es war Sommer und so war es möglich, sein Bett Tag und Nacht auf dem Balkon stehen zu haben. Dort ist er auch gestorben.“

Jener Balkon ist das Herzstück dieser besonderen Wohngemeinschaft. Weil man die Lebenssituation teilt, entstehen schnell Bekanntschaften, ja sogar Freundschaften. „Wir hatten mal zwei Herren hier, die fanden schnell zueinander und die lagen besonders gern hier draußen – Bett an Bett. Wir haben ihnen das Essen rausgebracht und den ganzen Tag lief WDR 4“, erinnert sich Michael Rohr und lacht. „Das war wirklich schön.“

Ein Blick ins Rund macht deutlich, auf dem Balkon ist immer etwas los. Die einen Angehörigen genießen mit ihren Lieben eine Tasse Kaffee, ein Mann im Strandkorb ein frühes Herrengedeck. Das Stillleben vor sich zeugt davon: Neben dem leeren Bierglas liegen Zigaretten, stehen ein Aschenbecher und ein Pinnchen. „Das sieht man nur hier bei uns“, sagt Rohr – und lacht.

Wellness-Bad mit Ziegenmilch

Ein Satz, der für vieles gilt. Besonders stolz ist man auf das Wellness-Badezimmer. Wer mag, kann betreut ein Vollbad nehmen. Dafür wird das Wasser mit Ziegenmilch angereichert und ätherischen Ölen. Dazu brennen Salzlampen, die Klangschale sorgt für entspannende Töne. Auch ein Pikkolöchen steht bereit. Man kann sich vorstellen, wer schon lange pflegebedürftig ist, kennt nur noch Körperwäsche mit Waschlappen. Da ist dieser Ort ein besonderer. „Das fängt aber schon mit dem Haarewaschen an. Wer einige Wochen im Krankenhaus war, hat manchmal ebenso lange nicht mehr die Haare gewaschen bekommen.“ Das ist hier anders. Denn die Mitarbeiter stünden nicht so unter Druck wie in Heimen oder Kliniken. „Hier bei uns sind echte Zeitschenker am Werk.“

Likörchen oder ein Wein? Am Nachmittag wird ein Gläschen ausgeschenkt.
Likörchen oder ein Wein? Am Nachmittag wird ein Gläschen ausgeschenkt. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Natürlich sind die zehn Plätze sehr begehrt. Zumal es ohnehin nur wenige Hospize gibt, lange nicht jede Stadt verfügt über ein eigenes. Die Zimmer stehen nicht jedem offen. Sie sind jenen vorbehalten, die an einer schweren Krankheit leiden, die zum baldigen Lebensende führt. Vielfach seien das Krebserkrankungen, aber auch Nervenerkrankungen wie Multiple Sklerose, schwerste Lungenerkrankungen oder auch Aids. Denn die Kostenträger, die Kranken- und die Pflegekasse, schauen genau hin, wem sie den Einzug ermöglichen.

Manche Menschen ziehen wieder aus

„Der Hospizplatz ist nicht befristet“, erklärt Rohr. Er sei aber gedacht für Tage bis Wochen. Dass etliche Menschen, im vergangenen Jahr waren es zwölf, wieder ausziehen, ist dennoch ein schönes Zeichen. Denn sie leben länger, als zunächst erwartet. „Es ist so wundervoll zu sehen, dass Menschen vom Schicksal gebeutelt her kommen und hier neuen Lebensmut schöpfen.“ So habe sich manch einer sogar entschieden, die Heilbehandlung, die im Hospiz eingestellt wird, noch einmal aufzunehmen. Manchmal sei die nach der Zeit der Ruhe sogar derart erfolgreich, dass die Menschen bis heute leben. „Da gibt es rührende Geschichten von Menschen, die noch Jahre später an uns denken, uns Grüße schicken und Kuchen.“ In noch selteneren Fällen sei es sogar vorgekommen, dass im Hospiz, durch das Einstellen der Heilbehandlung und die Konzentration auf die Schmerzbehandlung, Fehldiagnosen offenbart wurden.

Zufrieden in fremden „vier Wänden“

Damit man hier, ausgerechnet in fremden „vier Wänden“, zu sich selbst findet, richten die Bewohner das eigene Zimmer mit persönlichen Dingen ein. Auch Bärbel Berger hat einige Erinnerungsstücke mitgebracht. Das sind etliche hölzerne Engel, allesamt von ihrem Sohn angefertigt. „Der ist ein Holzwurm.“ Im Regal gegenüber dem Bett stehen viele Fotos von früher und heute.

„Diese Kleinigkeiten, die machen das Leben doch aus“, sagt sie und erzählt, schön sei es auch, dass sie sich ihr Essen wünschen dürfe: „Graubrot mit Gemüse – ich lebe nämlich gesund.“ Es ist ihr wichtig, von diesem guten Beispiel für gelungene Pflege zu erzählen. Sie will zeigen, wie gut es ihr geht. „Ich bin mit mir im Reinen.“ Immer habe sie sich bemüht, Frohsinn zu verbreiten und selbst Freude zu empfinden. Das scheint gelungen. Zum Abschied wünschen ihr die Besucher, sich diese Lebensfreude zu bewahren. Da strahlt Bärbel Berger noch einmal über das ganze Gesicht und sagt: „Die nehme ich mit.“

=> Die Suche nach einem Hospiz-Platz

Die wenigen Hospiz-Plätze in Deutschland sind sehr gefragt, die Suche nach einem freien Platz mitunter schwer. Eine Voraussetzung ist, dass der Mensch keiner Krankenhausbehandlung bedarf und ein Arzt bescheinigt, dass nur noch eine kurze Lebenszeit zu erwarten ist.

Viele Träger informieren am Welthospiztag am 9. Oktober. Eine Übersicht der Veranstaltungen zeigt der Deutsche Hospiz- und Palliativverband (dhpv.de). Auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (wegweiser-hospiz-palliativmedizin.de) kann man Hospize in der Nähe abfragen. Aber es fehlt eine Suche, die zeigt, wo Plätze frei sind. Das macht es schwer, zumal oft schnell ein Platz benötigt wird. Insbesondere für Angehörige, die selbst älter und gebrechlich sind, ist die Suche herausfordernd. Sie wünschen sich einen Ansprechpartner, der bürokratische Hindernisse aus dem Weg räumt.

Das „Emmaus-Hospiz“ in Gelsenkirchen-Resse hat einen Förderverein, der die Finanzierungslücke von fünf Prozent schließt. Den Rest der Kosten von rund 15.000 Euro im Monat tragen die Krankenkasse und die Pflegekasse. Den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen sei es wichtig, ansprechbar zu sein für Betroffene und ihre Angehörigen – auch wenn gerade kein Platz frei ist (emmaus-hospiz-gelsenkirchen.de; Tel. 0209/50 78 860).