Gelsenkirchen. Kathrin Biernath ist schwer krank – und ziemlich zufrieden mit ihrem Leben. Ihre MS, sagt die 53-Jährige, habe sie neu aufs Leben blicken lassen.

Kathrin Biernath nennt ihre Erkrankung tatsächlich: „einen Glücksfall“. Dabei handelt es sich um eine schwere, unheilbare Erkrankung – Multiple Sklerose, die Krankheit der 1000 Gesichter. Um die 250.000 Menschen bundesweit sind betroffen, am Sonntag ist Welt-MS-Tag.

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Alles begann mit einer Palette auf einem Lkw, die die gelernte Kauffrau, damals bei Schalke 04 im Logistikbereich tätig, verrücken wollte. „Plötzlich machte es knacks und nichts ging mehr“, erinnert sich die heute 53-jährige Gelsenkirchenerin an jenen Tag im April 2012. Zwei Lendenwirbel hatten sich übel „verdreht“, für sechs Wochen schrieb man sie krank. Als die Schmerzen schwanden, fiel der dreifachen Mutter eine leichte Taubheit im rechten Fuß auf. Nachwirkungen des Arbeitsunfalls, sagte der Arzt, und: „Das dauert.“ Es dauerte wirklich. Aber mehr als zwei Jahre und unzählige Arztbesuche später stand fest: Die Taubheit, die sich da von den Zehen schon über die Fußsohle bis zum Knie ausgebreitet und zu der sich eine seltsame Unkonzentriertheit gesellt hatte, war keineswegs Folge des Unfalls. Kurz nach Weihnachten 2014 erfuhr Kathrin Biernath vom Radiologen: Ihr Rücken ist super verheilt. Sie haben vermutlich MS.

Nach der Diagnose: „Wir hatten schon schönere Silvester“

Kathrin Biernath erinnert sich an diesen Moment noch heute als „Alptraum“. „Gott sei Dank ist es nicht Krebs“, habe sie dem Arzt im ersten Schock entgegnet, „mit unklaren Bildern von Rollstuhl und Bettlägerigkeit vor Augen“. Sehr viel mehr, als dass die Abkürzung MS für Multiple Sklerose steht, wusste sie damals ja nicht. Erst als sie wieder allein in ihrem Auto saß, flossen die Tränen. Daheim berichtete sie der Familie. „Wir hatten“, erzählt sie, „schon schönere Silvester“.

Ein Neurologe regte im neuen Jahr zur sicheren Abklärung eine Lumbalpunktion an, die Entnahme von Nervenwasser aus dem Rückenmarkskanal. Erst Monate danach stimmte Kathrin Biernath zu. „Es war schön, dass der Feind, der in mir herumspukte, endlich einen Namen hatte. Aber zugleich hatte ich Angst vor der endgültigen Bestätigung.“

Es gibt Behandlungsoptionen, auch für PPMS

Kathrin Biernath lebt seit 2014 mit der Diagnose „Multiple Sklerose“ und engagiert sich für andere Betroffene. In Gelsenkirchen will sie Café als Begegnungsstätte für Angehörige der Kranken aufmachen.
Kathrin Biernath lebt seit 2014 mit der Diagnose „Multiple Sklerose“ und engagiert sich für andere Betroffene. In Gelsenkirchen will sie Café als Begegnungsstätte für Angehörige der Kranken aufmachen. © „trotz MS“ | Roche Pharma AG

Sie fing an zu recherchieren, las, was sie finden konnte, über MS, eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Sie lernte, die Krankheit führt nicht unweigerlich in ein Leben mit großen Beeinträchtigungen, es gibt Behandlungsoptionen. Biernath fand zudem heraus, dass es verschiedene Formen der MS gibt – und dass sie nicht unter der schubförmigen Variante litt, die man ihr attestiert hatte, auf die auch ihre Medikation ausgerichtet war. „Es fühlte sich viel mehr wie PPMS (die stetig fortschreitende, seltenere Variante der Krankheit) an, nach allem, was ich gelesen hatte.“ 2018 bestätigte ein neuer Neurologe ihre Vermutung, stellte ihre Therapie um. Heute erhält sie alle sechs Monate eine Infusion in der Ambulanz der Essener Uniklinik – mit dem bislang einzigen zugelassenen Medikament zur Therapie der PPMS.

Alle 14 Tage ist zudem ein Arztbesuch fällig, dazu kommen Ergo- und Physiotherapie, Reha-Sport. Arbeiten kann Kathrin Biernath nicht mehr, seit 2016 bezieht sie Rente. „Missempfindungen“ hat sie inzwischen auch im linken Fuß und in der rechten Hand; Wärme macht ihr zu schaffen; strengt sie sich zu sehr an, kommt sie aus dem Gleichgewicht. Da sich ihre Blase nicht mehr vollständig entleert, muss sie sich zweimal täglich selbst „katheterisieren“. Am meisten beeinträchtige sie ihre „Darminkontinenz“. Die habe schon zu sehr peinlichen, „unmöglichen“ Situationen geführt, erzählt sie.

Aber auch zu schönen Erkenntnissen. Etwa der, dass ihre Tochter felsenfest zu ihr steht. Die drohte nämlich einst nach einem solchen Missgeschick während einer gemeinsamen Shopping-Tour damit, jeden, der ihre Mutter schief angucken würde, umzuhauen – während sie als „Rückendeckung“ mit einer großen Einkaufstasche hinter Kathrin Biernath hermarschierte. „Jede Medaille hat zwei Seiten“, sagt die 53-Jährige, lacht und strahlt dabei ungeheure Lebensfreude aus.

„Etwas nicht mehr zu können, ist kein Versagen, nur eine neue Grenze“

Wie gelingt Ihr das? Sie empfinde es nicht als „Versagen“, etwas nicht mehr tun zu können, sagt Biernath: „Es zeigt mir nur eine neue Grenze auf“. Für die große Münsterland-Radtour im Herbst mit ihrem Mann (100 Kilometer an einem Tag!) trainiert die Gelsenkirchenerin darum eifrig – „aber wenn’s nicht klappt, brechen wir eben ab“. Einen Gehstock hat sie sich schon besorgt, für schlechte Tage. Und Schreiben übt sie derzeit mit links, „für den Fall, dass es mit rechts gar nicht mehr geht.“ Selbst der Gedanke, irgendwann im Rollstuhl „zu landen“, jagt ihr keinen vernichtenden Schrecken mehr ein. Sie werde sicher nicht „zerbrechen“, wenn es soweit sei. „Ich kann mich ja darauf vorbereiten.“

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Ihre größte Sorge: zur Last zu fallen, der Gesellschaft nichts mehr „geben zu können“. Anderen MS-Patienten zu helfen, solange es ihr möglich ist, ist ihr darum ein Herzens-Anliegen. Für die Patientenkampagne „trotz MS“ (siehe Info) engagiert sie sich; im Gelsenkirchener „Stadtbauraum“ will sie „irgendwann nach Corona“ ein Café als Begegnungsstätte für Angehörige Betroffener eröffnen.

„Die Arbeit auf der Bühne stärkte mein Selbstbewusstsein“

Ihren Freunden hat sie früh erzählt, wie krank sie ist. „Ich wollte, dass sie wissen, warum ich nicht mehr so zuverlässig bin.“ Sie traf auf viel Verständnis. „Mach, wie du kannst“ etwa sagte ihr Chris Seidler, für deren „Opera School“ und Kinder-Theaterprojekte Kathrin Biernath seit der Grundschulzeit ihres Ältesten aktiv ist. Sie ist dankbar für dieses sichere „Netz“, gerade die Arbeit auf der Bühne, glaubt die 53-Jährige, habe ihr zudem sehr geholfen, die Krankheit zu bewältigen. Früher sei sie nicht so selbstbewusst gewesen wie heute.

Früher übrigens, ergänzt Kathrin Biernath, habe sie auch ganz anders fotografiert als heute: damals eher das große Ganze, den tollen Baum etwa; jetzt lieber das Detail, ein Stück Rinde vielleicht. Diesen neuen Blick auf die Dinge, sagt die MS-Patientin, habe ihr nur ihre Erkrankung ermöglicht. „Mit MS habe ich angefangen, die Welt anders zu sehen, intensiver unter die Oberfläche zu gucken.“ Die gesunde Powerfrau mit 16-Stunden-Tag, die sie davor war, die, glaubt Kathrin Biernath heute, die wäre irgendwann „total abgeschmiert, im Burnout gelandet“.

>>> INFO Patientenkampagne und Veranstaltungen zum Welt-MS-Tag

2017 rief der Pharmakonzern Roche zusammen mit Betroffenen diePatientenkampagne „trotz MS“ ins Leben. Deren Internetseite www.trotz-ms.de besuchen inzwischen jährlich Millionen Besucher.

Dort finden sich Infos rund ums Thema MS, Alltag-Tipps, der Blog „Starke Worte“, Experten-Interviews und einmal im Monat ein neuer Podcast.

Zur Initiative gehört zudem ein kostenloses, mehrsprachiges Serviceprogramm, das Erkrankten auch telefonische Beratung anbietet, zu erreichen unter der Telefonnummer 0800 1010800.

Den diesjährigen Welt-MS-Tag hat die deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft unter das Motto gestellt: „Stay Connected. Wir bleiben in Verbindung.“ Es gibt dutzende von Online-Veranstaltungen, zu finden unter : https://www.dmsg.de/dmsg-bundesverband/landesverbaende/veranstaltungen/#c1004669. Auch „trotz MS“ lädt zu einem virtuellen Live-Event ein: 30. Mai, 10-12 Uhr, einfach einloggen unter www.trotz-ms.de/connection-day-20021, keine Anmeldung erforderlich.