Moers. 200 Jahre Kneipp: Pfarrer Kneipp steht nicht nur für das Kneippen – das Wassertreten. Seine ganzheitliche Therapie wirkt überraschend modern.
Wie ein Storch hebt Madeleine Aimée Broichhausen ihr rechtes Bein hoch, um es dann im kalten Wasser des Beckens wieder verschwinden zu lassen. Sie lächelt weiter, kein Mundwinkel zuckt. Dabei ist das Wasser kalt! Aber die Frau, die ihr dunkelblaues Kleid rafft, damit es nicht nass wird, hat sich an die niedrigen Temperaturen gewöhnt. Täglich gibt sie sich mindestens einen kühlen Guss, bis ihre Haut ganz leicht die Farbe ihrer rot lackierten Fußnägel annimmt.
Das Frische-Vergnügen für Berufstätige
Madeleine Aimée Broichhausen ist eine Kneippianerin, wie sie sich selbst nennt. Sie lebt nach den Lehren von Pfarrer Kneipp, der am 17. Mai vor 200 Jahren im Allgäu zur Welt kam und die Menschen dazu verleitete, Wasser zu treten. Die meisten Mitglieder der 72 Kneippvereine in NRW sind Senioren, das Durchschnittsalter liegt bei 75 Jahren, so Madeleine Aimée Broichhausen. Aber auch immer mehr Jüngere würden sich für das kühle Nass erwärmen, sagt die 40-Jährige. Insbesondere Berufstätige suchten den erfrischenden Kick am Feierabend.
Dabei sei es wichtig „immer herzfern“ zu beginnen. So taucht sie stets zunächst den rechten Fuß ins Wasser. Und dann watet sie wie ein Storch – nicht durch die Sümpfe. Das Wasser der Anlage im Jungbornpark in Moers-Repelen ist so schön klar, dass man die Steine am Boden sieht. Flache Kiesel, die man gerne flitschen möchte. Aber sie liegen ja nicht am Grund eines Sees, sondern in einem Becken mit Handlauf.
Auf den Oberschenkeln der Kneippianerin bildet sich Gänsehaut. Das Wasser ist zwar nicht so kalt wie das eines Gebirgsbachs, aber auch viele Temperaturgrade entfernt von der wohligen Wärme eines Whirlpools. Dabei gibt Broichhausen gerne zu, dass sie nie in die kalten Fluten eines Meeres springt: „Wenn ich schwimmen gehe, muss es schön warm sein, eher Badewannentemperatur.“
Eiskalte Ganzkörpergüsse seien auch gar nicht nötig für den Kneipp-Effekt. Im Gegenteil, sie hält sie sogar für ungesund. Die Abwehrkräfte stärke man schon durch kurze Güsse, die nur bis zum Knie gehen. „Das mache ich jeden Tag unter der Dusche.“ Beim ersten Mal sei ihr dabei aber fast der Atem weggeblieben – danach kam das belebende Gefühl.
Auch viele Kinder kneippen
Sie gesteht: „Ich dachte immer, Kneipp ist: Wassertreten und alte Menschen.“ Aber dann las sie 2015 auf der Kinderseite einer Tageszeitung, dass Sebastian Kneipp mehr als nur die heilende Wirkung des Wassers predigte. Broichhausen tippt auf die Finger ihrer rechten Hand und zählt auf: Neben Wasser (Zeigefinger) fand Kneipp die Bewegung (Mittelfinger) wichtig für das Wohlbefinden des Menschen sowie die Ernährung (Ringfinger), die Heilpflanzen (kleiner Finger) und schließlich die Lebensordnung, die man heute mit Wörtern wie Work-Life-Balance oder Achtsamkeit umschreiben könnte.
Broichhausen ist damit bei der fünften Säule der Kneipp-Philosophie angekommen – und beim Daumen. „Und der Daumen, die Lebensordnung, berührt alle anderen Elemente“, sagt sie und führt es vor, indem sie mit dem Daumen jeden Finger der gleichen Hand noch einmal antippt. Schon Kneipp habe gewusst, dass Körper und Seele zusammenhängen.
Dieses ganzheitliche Gesundheitskonzept, dessen Elemente sich auch in modernen Therapien wiederfinden, hat sie begeistert. Vorbeugen, bevor überhaupt die ersten Zipperlein entstehen. „Es hat meine Idee vom Leben untermauert.“ Und: „Ich finde es toll, weil es so einfach ist.“ „Mind & Body“ hat sie ihre eigene Coaching-Firma in Herzogenrath genannt, in der berät sie als Sonderpädagogin mit sehr vielen Zusatzqualifikationen: Fitnesstrainerin, Yogalehrerin, Stress- und Burnoutpräventions-Trainerin, Heilpraktikerin für Psychotherapie, und, und, und.
In dem Artikel auf der Kinderseite über Kneipp wurde damals zu einem Fest eingeladen. Sie bot an, dabei zu helfen. Und das war der erste Schritt, noch nicht ins kühle Nass wie ein Storch, aber in den Kneipp-Verein in Aachen. Schließlich wurde sie dessen Vorsitzende und Kneipp-Gesundheitsreferentin für Kinder. Seit zwei Jahren ist sie auch Landesvorsitzende. Und nun Vizepräsidentin vom Kneippbund in Deutschland. Ehrenamtlich – neben ihrer Selbstständigkeit.
Jeden Tag etwas Zeit für die Gesundheit
Sie will etwas Gutes tun und genießt dabei das Gefühl, etwas zu bewegen – und sei es nur, dass sich andere Menschen etwas mehr bewegen. Gern zitiert sie da Kneipp selbst: „Wer nicht jeden Tag etwas Zeit für seine Gesundheit aufbringt, muss eines Tages sehr viel Zeit für die Krankheit opfern.“
Bei den vielen Aufgaben kann einem trotzdem schon mal der Kopf schwirren. Dann nimmt sie das „Kneippsche Aspirin“, wie sie das Wassertreten nennt. Dabei bleibt sie nur einen Moment im Becken, „drei Minuten höchstens“. Schließlich ginge es nur um einen kurzen Kältereiz. Und: „Wenn mir kalt wäre, dürfte ich gar nicht rein.“
Ein Handtuch hat sie nicht dabei. Sie hat es nicht vergessen, es wird empfohlen, höchstens die Zehenzwischenräume zu trocknen. Broichhausen streift lediglich mit beiden Händen das Wasser von den Beinen ab, von den Knien nach unten weg. Und danach ganz wichtig: wärmt sie sich wieder auf. Sie hüpft von einem erfrischten Bein auf das andere, geht mit bloßen Füßen über den Rasen. Das kitzelt schön.
Nicht nur für Fakire: Der Gang über Glasscherben
Mehr Impulse für die Sohlen liefert der angrenzende Barfußpfad. „Kneipp war ein großer Fan davon“, sagt Broichhausen. Doch als sie nicht nur den Sand und die Pinienrinden sieht, sondern die türkisfarbenen Glasscherben, zögert sie ein wenig. „Das sieht Aua aus“, sagt sie lachend – und traut sich doch, über den Weg zu balancieren und sich selbst eine kleine Fußreflexzonenmassage zu geben.
Die Anlage in Moers darf am Tag von Broichhausens Besuch coronabedingt noch nicht für Gäste öffnen, daher ist eines der Becken leer. Allerdings soll nicht Wasser dort hineinfließen, sondern Lehm. Dem werden ebenfalls gesundheitsförderliche Eigenschaften nachgesagt, etwa bei Rheuma oder Neurodermitis. Allerdings war nicht der katholische Pfarrer Kneipp (1821 – 1897) derjenige, der Kurgäste im Dorf Repelen im Lehm baden ließ – und das teils bis zum Bauch --, sondern der evangelische Pastor Emanuel Felke (1856 – 1925). Ob sich die beiden Visionäre jemals begegnet sind? Das bezweifelt Christa Wittfeld, Vorsitzende des örtlichen Felkevereins. „Felke hat als Vorbild Pfarrer Kneipp gehabt“, sagt die 81-Jährige über den „Lehmpastor“.
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„Schade, dass das Lehmbecken noch nicht gefüllt ist“, bedauert Madeleine Aimée Broichhausen. Im Gegensatz zum Wassertreten wird der Lehm allerdings im Anschluss nicht von den Beinen abgestreift, sondern zunächst auf der Haut getrocknet, erklärt Wittfeld. Aber auch hier empfiehlt es sich, so die Kennerin, beim Gang durchs Becken den Druck zuerst auf die Fußsohlen zu geben. Und wie gelingt das am besten? „Mit dem Storchengang.“
Anlagen wie die Am Jungbornpark in Moers (3 €, Kinder bis 10 Jahren frei; barfusspfad-moers.de) können coronabedingt geschlossen sein. Weitere Kneipp-Becken in NRW unter: kneippbund-nrw.de/kneippen
>> Gesund mit der Gießkanne: Das Leben von Pfarrer Kneipp
Sebastian Kneipp stammte aus einer Weberfamilie. Ein Studium konnten seine Eltern ihm nicht finanzieren, aber er blieb bei seinem Wunsch, Priester zu werden, und verdiente sich sein Geld als Tagelöhner. Als er schließlich das Studium der Theologie aufnehmen konnte, erkrankte er Mitte des 19. Jahrhunderts an der Schwindsucht, wie man die damals meist unheilbare Tuberkulose nannte. Er war sehr erschöpft, konnte nur mühselig das Lernen fortsetzen. Dann entdeckte er in der Bibliothek in München ein Buch des Mediziners Johann Siegmund Hahn (1696 - 1773) „über die wunderbare Heilkraft des frischen Wassers“. Es sollte ein Wendepunkt in seinem Leben werden.
Kneipp folgte Hahns Rat und ging strammen Schrittes dreimal die Woche zur Donau, um bei Wind und Wetter ins kalte Wasser zu steigen – und sich danach wieder zu erwärmen. Er fühlte sich immer besser. „Nach einigen Monaten gesundete er vollends“, schreibt der Arzt Hans Gasperl in „Das große Kneipp-Buch“ (siehe Kasten). Später ersetzte Kneipp die Donau durch eine Gießkanne. Es sollte jedoch nicht nur bei den Güssen bleiben, die er erfand.
Der Weg zur Gesundheit führt durch die Küche
Kneipps Therapie basiert – wie bereits genannt – auf fünf Säulen, neben Wasser ist das die Ernährung: „Der Weg zu deiner Gesundheit führt durch die Küche und nicht durch die Apotheke“, ermahnte Kneipp und bevorzugte die pflanzliche Kost. Aber Verbote kannte er nicht, man sollte es nur nicht übertreiben: „Nicht zu salzig, nicht zu süß, nicht zu sauer …“
Die Bewegung war ihm ebenfalls wichtig, er empfahl gymnastische Übungen. Allerdings warnte er: „Untätigkeit schwächt, Übung stärkt, Überlastung schadet.“ Die Lebensordnung war ein weiterer Punkt: Diese Balance werde „verwirklicht durch die Regelmäßigkeit der Ernährung, die strengen Tagesrhythmen sowie die Verminderung der emotionalen Belastung“, schreibt Hans Gasperl. Zudem setzte Kneipp auf die Wirkung der Heilpflanzen. Auch heute noch lassen sich Wehwehchen mit Kräutertees beheben.
Schuhe aus: Der Pfarrer predigte das Barfuß-Gehen
„Die Naturprodukte hat Kneipp an einen Apotheker verkauft“, sagt Kneipp-Referentin Madeleine Aimée Broichhausen. Aus dieser Kneipp-Linie hat sich schließlich die gleichnamige Kosmetik-Firma in Würzburg vor 130 Jahren entwickelt. Das Unternehmen und die Kneipp-Vereine sind aber zwei getrennte Paar Kneippsandalen – auch noch etwas, das der Pfarrer erfunden hat: Schlappen, die die Füße nicht unnötig krümmen. Grundsätzlich empfahl er aber: Schuhe aus – barfuß laufen. Das schickte sich damals bei den feinen Damen und Herren natürlich nicht. Kneipp ließ sich nicht beirren – und hatte damit Erfolg.
Als er jedoch im Alter an einem Tumor erkrankte, lehnte er einen chirurgischen Eingriff ab. Er verfolgte weiter seine eigenen Ideen und kam damit an seine Grenzen. . . 1897 verstarb er im Alter von 77 Jahren.
Nichtsdestotrotz: Vielen Menschen konnte er mit seinen Methoden helfen. Die deutsche UNESCO-Kommission nahm 2015 das Kneippen in das Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes auf. Rund 200.000 Mitglieder zählen die Kneipp-Vereine heute allein in Deutschland, so Madeleine Aimée Broichhausen, die alle nicht nur Wasser treten, sondern etwa gemeinsam walken oder Aqua-Gymnastik machen. Der größte Landesverband mit rund 20.000 Mitgliedern ist der in NRW. Kitas, Schulen und Seniorenheime lassen sich nach Kneipp zertifizieren.
Sogar ein Golfplatz hat das Gütesiegel des Kneipp-Bunds erhalten, und zwar in Bad Wörishofen, wo der Pfarrer ab 1855 wirkte. Ob das Golfen seinem Lebensstil entsprochen hätte? Er soll die Kurgäste unabhängig vom Ansehen der Person, ob arm oder reich, behandelt haben. Die Bewegung an der frischen Luft hätte ihm sicherlich zugesagt.
Und weil der Pfarrer mit den markanten Augenbrauen ein richtiger Promi war, wird er heute auch hübsch vermarktet. So verkauft der Kneipp-Bund im Jubiläumsjahr nicht nur Shirts und Schürzen mit seinem Konterfei, sondern den ganzen Pfarrer als Playmobilfigur mit Gießkanne, Kneipp-Sandalen und seinem Buch „Meine Wasserkur“, begleitet von seinem weißen Spitz. Kneipp hätte das bestimmt gefallen, schließlich gibt es nur wenige Playmobilmännchen, die vorbildlich barfuß laufen.
>> Der Frischekick für zwischendurch: Der Kneippsche Espresso
Wenn Madeleine Aimée Broichhausen nach einem Vormittag voll mit Terminen etwas erschöpft ist, gönnt sie sich den „Kneippschen Espresso“ – einen Armguss.
Dafür lässt sie das etwa 18 Grad kühle Wasser aus einem Schlauch über die warmen Arme laufen. Sie fängt am kleinen Finger der rechten Hand an, geht dann mit dem Strahl weiter nach oben, dreht den Arm dabei, und befeuchtet schließlich die Innenseite, bevor sie sich den linken Arm vornimmt.
Wer keinen Schlauch im Garten hat, aus dem das Wasser mit nur wenig Druck sprudelt, der kann eine Gießkanne nehmen. Das Waschbecken tut es aber auch. Broichhausen hält die Arme unter den kühlen Wasserstrahl aus dem Kran. Einmal den rechten Arm bis über den Ellenbogen, einmal den linken. Am Ende streift sie das Wasser nur ab – und gönnt sich noch ein paar erfrischende Tropfen für den Nacken.
Das „Kneippsche Aspirin“
Während das Nass auf den Armen wacher macht, kann das Nass an den Füßen beim Einschlafen helfen. Oder bei Kopfschmerzen, so Madeleine Aimée Broichhausen: „Das Kneippsche Aspirin.“ Doch nicht jeder hat ein Kneipp-Becken in der Nähe – oder möchte durch den Fisch-Teich im Garten stapfen. Ein großer Eimer tue es auch, so Broichhausen, um sich abzuhärten und die Venen-Pumpe zu starten.
Sie selbst macht gerne einen Knieguss und nimmt dafür die Handbrause der Dusche. Auch hier fängt sie – das haben wir mittlerweile gelernt – herzfern, also mit der rechten Seite beim kleinen Zeh an. Dann geht sie mit dem Wasserstrahl hinauf bis handbreit über die Kniekehle, verweilt dort kurz, und geht dann am Innenschenkel wieder hinab, bevor sie sich den vorderen Teil des Schenkels – wieder von außen – bis handbreit unter dem Knie vornimmt. Das Ganze beim linken Bein wiederholen. Zum Schluss bekommen noch die Fußsohlen, erst rechts, dann links, einen ordentlichen Schuss. „An den Füßen gibt es viele Rezeptoren“, erklärt sie. Danach die Füße wieder erwärmen.
Der Schönheitsguss
Auch mit dem Gesicht kann man kneippen. Keine Angst, dafür muss man sich nicht selbst döppen. Man kann einen Schlauch nehmen, aber Broichhausen legt ihre Hände so zusammen, dass sie wie eine Schale das kalte Wasser auffangen. „Dann das Wasser von oben herunterfließen lassen.“ Also von der Stirn die Wangen hinab.
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Auf diese Art das Gesicht mehrmals benetzen, schließlich das Wasser abstreifen. Das fördere die Durchblutung, gebe rote Bäckchen. Daher trägt die Wasseranwendung im Gesicht auch den Namen „Schönheitsguss“.
Das Tau- und Schneetreten
Rund 120 Wasseranwendungen soll es laut Kneipp-Bund geben. Dazu zählen auch Tautreten (mit den warmen Füßen über eine feuchte Wiese) und Schneetreten (20 bis 30 Sekunden in frischen Flocken). „Man kann eigentlich nichts falsch machen“, ermuntert Madeleine Aimée Broichhausen, das Kneippen in den Alltag zu integrieren. Allerdings rät sie dazu, zwischen Bein- und Armguss etwa zwei Stunden verstreichen zu lassen. Und zum Beispiel Herzkranke sollten sich nicht ohne Rücksprache mit dem Arzt den kleinen Kälteschock geben.